Wann bin ich genug?

Einige Menschen tragen den Glaubenssatz in sich, nur dadurch einen Wert oder eine Daseinsberechtigung zu haben, indem sie etwas tun bzw. auch, was sie tun. Seien es Arbeit, sportliche Leistung oder andere Dinge - wir tendieren dazu, uns darüber zu definieren, was wir tun und nicht darüber, wer wir sind. Das ist grundsätzlich ja auch in Ordnung und ganz normal und wir dürfen auch stolz darüber sein, was wir erreichen oder uns (auch) über bestimmte Ziele oder das, was wir mit und in unserem Job erreichen möchten, identifizieren. Nur dürfen wir wissen, dass diese Dinge nicht alleine darüber bestimmen, was uns ausmacht. Wir sind mehr als “nur” Eltern, Anwälte, Ärzte, Lehrer, Sportler oder Krankenpfleger. Wir sind auch Freunde, Kinder unserer Eltern und im Kern Menschen - und haben damit schon sehr viel gemeinsam.

Trotzdem passiert es, dass wir uns manchmal sehr in Projekte vertiefen oder unseren Fokus sehr auf das Erreichen eines Ziels legen. Meistens erfordert es auch besondere Leidenschaft und Hingabe, ehrgeizige Ziele zu erreichen, genau wie auch jede gute Beziehung es erfordert, dass beide Seiten Zeit und Energie investieren, damit diese gelingen kann. Und dennoch gelingt es den meisten Menschen, ihren Wert nicht alleine davon abhängig zu machen, wie sie nun in einem Bereich ihres Lebens abschneiden.

Es kann aber auch vorkommen, dass wir, besonders wenn wir unter einem niedrigen Selbstwert leiden, nie das Gefühl haben, genug zu sein. Wir suchen ständig nach Bestätigung im Außen und brauchen diese sehr regelmäßig, weil wir so fundamental an uns und unseren Qualitäten zweifeln, dass wir glauben, diese ständig unter Beweis stellen zu müssen. Egal, wie sehr wir uns bemühen, wie viele Überstunden wir leisten oder wie viele Extraschichten im Fitnessstudio wir einschieben - es bleibt immer ein Restzweifel, ob wir genug getan haben, ob wir genug sind. Doch genau die Dinge, die wir unternehmen, um unser Gewissen, unsere kritische innere Stimme zu beruhigen, halten uns oft davon ab, in dem erfolgreich zu sein, was wir tun. Wir schaffen es nicht, eine Pause einzulegen, aus Angst, dass wir dann nichts mehr wert sind. Doch genau diese Pausen wären erforderlich, damit wir beruflich, sportlich oder auch sozial Fortschritte erzielen können. In den Pausen kommen wir zur Ruhe, können etwas Abstand gewinnen und sehen erst, wie weit wir es schon gebracht haben. Wir tanken Energie für kommende Aufgaben und gewinnen neue Motivation, an unseren Herzensprojekten weiterzuarbeiten. Jeder Mensch muss Pausen machen, und auch, wenn wir vielleicht das Gespür dafür verloren haben, wann wir wirklich eine solche benötigen, sollten wir im Zweifel eine einlegen - sie wird uns nur gut tun.

Das ist nicht faul oder ein Mangel an Leidenschaft oder Motivation - im Gegenteil: wir nehmen uns und unsere Ziele ernst und tanken deswegen Kraft, weil wir sie dadurch besser und schneller erreichen, als wenn wir uns ausgelaugt von Tag zu Tag schleppen, getrieben von der Angst, sonst wertlos zu sein. Doch auch wenn man davon absieht, dass es uns Pausen langfristig ermöglichen, unsere Ziele besser zu erreichen, möchte ich die Frage in den Raum stellen, ob es denn wirklich so schlimm wäre, wenn wir diese verfehlen würden?

Es ist nichts falsch an ehrgeizigen Zielen, persönlichen Projekten oder ambitionierten Arbeitsvorgaben - im Gegenteil. Fleiß und Disziplin, Hingabe und Leidenschaft sind allesamt wunderbare Qualitäten, doch sie bekommen in unserer Gesellschaft leider so viel Anerkennung, dass darauf vergessen wird, dass es auch das Gegenteil braucht, um langfristig die Balance halten zu können. Und es braucht auch eine gesunde Einstellung, damit uns unser Projekt/Job/anderes Unternehmen nicht buchstäblich auffrisst. Denn unabhängig von dem, was wir leisten, was wir an einem Tag, in einer Woche oder einem Jahr erreichen - wir sind genau richtig so, wie wir sind. Jeder Mensch hat seine ganz individuellen Kapazitäten und Fähigkeiten, sein eigenes Tempo und seine eigenen Ziele und ALLES davon hat Platz. Das Leben ist weder ein Wettrennen, wer Ziel XY am schnellsten und effektivsten erreicht, noch ist es ein Bewerb um das “außergewöhnlichste” oder “löblichste” Unterfangen, das wir anstreben müssen. Wenn wir uns selbst treu bleiben und nicht versuchen, es nur allen anderen recht zu machen oder unseren Wert für sie oder auch vor ihnen zu beweisen, desto zufriedener und entspannter können wir durchs Leben gehen. Niemand verurteilt uns dafür, was wir tun, wie wir es tun oder wie schnell (oder langsam) wir unserem Ziel näher kommen - deshalb sollten auch wir das nicht machen. Es ist okay, auch länger zu brauchen, es ist okay, ungewöhnliche Wege zu gehen und es ist auch vollkommen in Ordnung, dabei Pausen zu machen und anzuerkennen, wie weit man es schon gebracht hat. Unsere Voraussetzungen sind so verschieden wie wir selbst und während ein Mensch mit demselben Ziel wie wir einen Meilenstein schon früher erreicht, bedeutet das nicht, dass wir nicht auch stolz sein können, wenn wir diesen dann erreicht haben - wer weiß, wie viel Anstrengung es uns gekostet hat, welche Widrigkeiten wir zu überwinden hatten, bevor wir dorthin kamen, wo wir hinwollten.

Die Quintessenz dieses Textes soll lauten: Wir sind schon genug, auch wenn wir dieses Gefühl noch nicht in uns spüren können. Egal, wie viel, wie schnell oder wie gut wir etwas machen, wie oft wir scheitern oder wie oft wir einen neuen Anlauf starten - alles das hat einen Platz und ist nicht schlechter als die “Leistung” von irgendjemand anderem, der auch gänzlich andere Voraussetzungen hat. Wir dürfen alle UNSEREN Lebensweg gehen, in dem Tempo, das uns passt und müssen dabei niemanden überholen. Es ist okay, wie und wer wir sind - in jedem Augenblick unseres Lebens und ganz unabhängig davon, was wir tun und was wir lassen. Wir dürfen von den Erwartungen, die wir an uns stellen, Abstand nehmen, einfach unser Bestes geben und unabhängig vom Ergebnis stolz darauf sein, was wir tag-täglich alles schaffen. Und wir müssen uns NIE vergleichen, denn jeder Vergleich hinkt und sagt darüber hinaus nichts über unseren eigenen oder den Wert einer anderen Person aus.

Ich hoffe, dass diese Zeilen einige Leser erreichen, die sie heute hören mussten. Seid nicht zu streng zu euch selbst und lebt euer eigenes Leben - denn das ist ein Geschenk, genau so wie es ist und niemand sonst kann es für euch tun. Ich wünsche dir - liebe/r Leser/in einen wunderbaren Tag. Bis bald, Jakob

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