Balance

“Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift. Alleine die Dosis macht, dass etwas kein Gift ist.” - Paracelsus

Wenn ich an die Werte denke, die in unserer Gesellschaft vorherrschend sind, kommen mir als erstes Begriffe wie “Leistung”, “Disziplin”, “Arbeitsmoral” und ähnliche Wörter in den Sinn. Wenn jemand hart für etwas arbeitet, bekommt er in unserer Zeit Anerkennung, selbst wenn das Ausmaß der Arbeit ihm oder ihr vielleicht selbst nicht mehr gut tut. Es ist im ersten Moment auch naheliegend, davon auszugehen, dass wenn eine bestimmte Menge gut ist, dass mehr sicher noch besser sein muss. Wenn ein bisschen Bewegung uns gut tut und ein ambitionierter Trainingsplan sogar noch besser für unsere Gesundheit ist, dann müsste mehr Bewegung doch immer besser sein, oder? Wenn wir mit einer bestimmten Zeit an Arbeit Anerkennung bekommen, dann müsste mehr doch auf jeden Fall noch mehr bringen? Auch in Sachen Disziplin, Verzicht auf ungesunde Genussmittel und viele weitere Dinge könnte man meinen, dass mehr (also im Falle des Verzichts weniger) immer besser ist. Doch ist das wirklich so?

Die Menschen, die am meisten arbeiten, sind vermutlich Workaholics, die sich nur noch über ihren Beruf definieren und außerhalb ihrer Arbeit keinen Hobbys oder sozialen Aktivitäten mehr nachgehen. Auch Sportler, die es im Training übertreiben, schaden sich selbst irgendwann auf körperlicher Ebene, weil ihre Gelenke und auch der Kopf irgendwann nicht mehr mitmachen, sie sich verletzen oder ins Burnout schlittern. Auch wenn wir dazu tendieren, Extreme zu bewundern und auch zu idealisieren, müssen wir uns bewusst machen, dass viele Menschen, die solch einseitige Lebensstile pflegen, alles andere als gesund, geschweige denn glücklich sind. Oft stellen diese hochstilisierten Dinge wie Arbeit, Sport oder Disziplin nur Ausflüchte dar, Wege, um unangenehmen Gefühlen auszuweichen oder sich nicht mit schmerzhaften Dingen aus dem Alltag auseinandersetzen zu müssen. Wenn es uns nicht gut geht, klammern wir uns an jedes angenehme Gefühl und versuchen, irgendwie mehr davon zu bekommen, was dann in einen Kreislauf münden kann, in dem wir immer mehr Zeit mit einer Sache verbringen und andere Bereiche unseres Lebens komplett vernachlässigen. Es kann aber auch sein, dass wir “ohne Not” uns in Situationen begeben, die uns nicht mehr gut tun, weil wir zu sehr auf einen Lebensbereich fixiert sind.

Es wäre einfach, nun zu sagen, dass es in jeder Situation des Lebens ein gesundes Mittelmaß braucht, in dem man alle Lebensbereiche gleich wichtig nimmt und keinen vernachlässigt - seien es Gesundheit, Spiritualität, soziale Kontakte, Arbeit oder Familie. Doch die Realität sieht oft anders aus. Es gibt einfach Phasen in jedem Leben, in denen wir bestimmte Dinge priorisieren müssen oder wollen, entweder weil wir eine Gehaltserhöhung anstreben, einen Marathon laufen möchten oder kurz davor sind, unseren Partner oder unsere Partnerin zu heiraten. Dass in solchen Zeiten andere Lebensbereiche vielleicht nicht in dem Ausmaß Platz finden, wie sie es sollten, ist ganz natürlich und solche Phasen können auch mehrere Jahre andauern. Problematisch wird es in meinen Augen erst, wenn wir beginnen, uns zu sehr über eine Sache zu definieren. Wir Menschen bestehen aus vielen Facetten und es ist ganz normal, dass wir mehrere Rollen bekleiden und in verschiedenen Kontexten verschiedene “Identitäten” besitzen. Doch diese Bereiche müssen einander nicht im Weg stehen, im Gegenteil: ich bin eher der Meinung, dass eine gesunde Balance es uns ermöglicht, in allen Bereichen zu wachsen und unsere beste und ausgeglichenste Version zu sein. Natürlich wird bei einem Profisportler das Training einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch nehmen und ein Unternehmer wird auch selten wirklich nur eine 40-Stunden-Woche arbeiten. Das muss jedoch nicht heißen, dass diese Menschen auch außerhalb nur an ihre Leistung oder ihren Job denken. Ich glaube, dass gerade in solchen Situationen ein Perspektivwechsel und damit einhergehender Rollenwechsel uns allen, die wir ehrgeizige Ziele verfolgen, nicht nur gut tut, sondern auch auf mentaler Ebene entlastet. Erfahrungen außerhalb unserer täglichen Arbeit oder unseres täglichen Trainings können uns bewusst machen, dass unser Wert nicht alleine aus der Leistung besteht, die wir in diesem Bereich bringen. Was uns als Menschen ausmacht, ist nicht nur Arbeit, Leistung oder Sport. Das können wir oft vergessen, wenn wir zu sehr in unserer “Bubble” gefangen sind, in der sich alles immer nur um die gleichen Themen dreht, was auf Dauer nicht mehr produktiv, sondern nur noch anstrengend ist. Doch wenn wir auch über den Tellerrand hinausblicken und für uns eine Balance finden, sowohl unsere Ziele zu verfolgen, als auch andere Bereiche unserer sozialen, körperlichen, mentalen und spirituellen Gesundheit nicht zu vernachlässigen, so wird uns das viel weiter bringen als wenn wir stur und hyperfokussiert tagein, tagaus nur an einer Sache arbeiten.

Ich möchte jeden ermutigen, der sich vielleicht etwas ertappt fühlt, weil er oder sie in letzter Zeit sehr auf eine Sache in seinem oder ihrem Leben fixiert war, einmal wieder sich Zeit zu nehmen, von genau dieser Sache Abstand zu gewinnen. Denn auch, wenn es ein uns sehr wichtiges Ziel, eine Deadline oder ein anderes, wichtiges Projekt ist, können wir von einer Pause und einem Ausgleich nur profitieren und werden danach mit neuen Ideen, neuer Motivation und Energie und frischem Elan an genau dieses herangehen können. Außerdem erlaubt es uns dieser Ansatz, auch längerfristig an Zielen zu arbeiten, weil wir nicht immer nur auf dieses fixiert sind, ungeduldig werden und mit der Zeit ausbrennen oder uns selbst darin verlieren. Nicht umsonst gibt es das Phänomen des “Post-Olympic-Blues”, eine Form der Depression, die bei Sportlern beobachtet wird, wenn sie ein großes Ziel (wie die Teilnahme an Olympischen Spielen) erreicht haben. Da die Monate und Jahre zuvor alles diesem Ziel untergeordnet wird und alle anderen Lebensbereiche hintangestellt werden, definieren sich die Athleten nur noch über ihr Ziel und ihr Training und fallen entweder nach dessen Eintritt in ein tiefes Loch oder suchen sich schnell ein neues, größeres Vorhaben, um nicht nachdenken zu müssen und sich mit der eigenen Identität auseinandersetzen zu müssen. Auch bei Millionären ist selten nach der ersten Million Schluss - es erwächst schnell der Wunsch nach der zweiten, dritten, x-ten Million. Doch zum Einen macht uns das nicht glücklich, sondern nur immer ausgbrannter und zum Anderen ist es auch nicht so gewinnbringend wie ein balancierter Ansatz. Es mag sein, dass dadurch ein Training auch mal ausfallen muss oder die x-te Überstunde wegfällt - doch dafür bekommen wir wieder einen Blick für die Welt um uns herum und werden dadurch nicht nur glücklicher, sondern auch dankbarer, dass wir unsere Ziele verfolgen können und uns das auch langfristig erfüllt - ohne uns alleine zu definieren.

Previous
Previous

Wann bin ich genug?

Next
Next

Weniger denken - mehr fühlen