Verzerrte Selbstwahrnehmung
Ein verbreitetes Phänomen bei Sportlern, die im Bodybuilding wettkämpfen, nennt sich im Englischen “Body dysmorphia”. Es ist ebenfalls ein Symptom von Essstörungen wie etwa einer Magersucht oder Bulimie. Aber auch gesunde Menschen können ab und zu oder regelmäßig von der (auf Deutsch etwas sperriger klingenden) “Körperschemastörung” betroffen sein. Im Kern ist eine solche Wahrnehmungsstörung ein Symptom von Unsicherheit oder auch einem niedrigen Selbstwert. Sie wirkt sich so aus, dass Betroffene nicht mehr objektiv ihr Aussehen beurteilen können, sondern sich entweder zu dick fühlen oder bestimmte Körperpartien kritisieren, die eigentlich für das neutrale Auge ganz “normal” aussehen. Natürlich ist nicht jede Selbstkritik, die auf das eigene Aussehen bezogen ist, sofort eine Körperschemastörung, doch verdächtig wird es, wenn sich die Selbstwahrnehmung grob von der der Außenstehenden unterscheidet. Im Falle einer Essstörung nehmen sich PatientInnen als “dick” wahr, obwohl sie oft stark abgemagert sind. Bodybuilder hingegen klagen, sie sähen so “dünn” aus, was sie auf fehlende Muskelmasse zurückführen, während sie eigentlich mit Abstand die muskulösesten Personen weit und breit sind.
Man könnte meinen, dass diese Äußerungen nur eine Masche sind, eine Form des Understatement, um nicht arrogant zu wirken oder um vielleicht Widerspruch und somit Bestätigung von außen zu provozieren. Doch verschiedene Studien haben gezeigt, dass dem nicht so ist und dass sich Betroffene tatsächlich so wahrnehmen, wie es sich für Außenstehende kaum nachvollziehen lässt. Hinzu kommt, dass der Blick und die Bewertung anderer Körper ganz normal zu funktionieren scheint und auch objektiv bleibt, nur das eigene Spiegelbild wird überkritisch beäugt.
Und nicht nur Äußerliches kann von einer gestörten Selbstwahrnehmung betroffen sein. Auch unser Verhalten kann von uns Menschen in der Retrospektive oft nicht mehr objektiv beurteilt werden. Die klassische Situation ist wohl, dass man im Nachhinein bereut, etwas gesagt zu haben und sich Sorgen macht, wie das Gegenüber die vermeintlich unfreundliche, schroffe Äußerung wohl aufgenommen haben könnte. Nicht selten stellt sich auf Nachfrage aber heraus, dass diese gar nicht als solche wahrgenommen wurde und als ganz neutral in Erinnerung geblieben ist. Besonders unsichere oder selbstkritische Menschen haben öfter mit solchen Zweifeln zu kämpfen als selbstbewusste. Vor wir uns aber Vorwürfe machen oder sogar für unser Aussehen oder unser Verhalten schämen, sollten wir uns zuerst eine Zweitmeinung von einem Menschen einholen, dem wir vertrauen und von dem wir eine ehrliche Antwort erwarten. Denn wie wir uns selbst wahrnehmen kann - unabhängig vom Vorliegen einer echten Körperschemastörung oder eines niedrigen Selbstbewusstseins - auch stark von unseren augenblicklichen Emotionen abhängen, die wir auf unseren Körper projizieren. Wenn wir uns nicht wohlfühlen, können auch gesunde Menschen schnell einmal kritischer mit sich selbst sein und ein strengeres Urteil fällen, als es aus neutraler und objektiver Sicht notwendig wäre. Doch gerade wenn wir Dinge im Außen nicht beeinflussen können, wollen wir in irgendeiner Art und Weise wieder Kontrolle ausüben, wozu dann oft unser Körper dient, indem wir uns Wort-wörtlich “abreagieren”.
Von solchen Motiven getrieben aber Sport zu betreiben und sich zu “bestrafen” ist allerdings eine sehr ungesunde Herangehensweise. Viel eher sollten wir den Skill erlernen, unabhängig von unseren Emotionen einen neutralen Blick auf uns werfen zu können und uns nicht zu verurteilen, auch wenn wir gerade unzufrieden, gereizt, traurig oder wütend sind. Unsere Emotionen haben einen Ursprung und die Verantwortung bei unserem Körper zu suchen ist in den allermeisten Fällen ungerecht gegenüber uns selbst. Stattdessen lohnt es sich, genauer hinzuspüren und zu hinterfragen, woher unser schlechtes Gefühl kommt und was wir wirklich dagegen tun können - oder ob wir es vielleicht auch einfach nur aushalten und wieder ziehen lassen dürfen. Wenn wir uns selbst abwerten, dann hat das selten rationale Gründe und dessen dürfen wir uns immer bewusst sein. Wenn wir bei uns sind und keine negativen Impulse gegenüber uns selbst haben, können wir nicht nur angemessener, sondern auch zielgerichteter reagieren und das Problem, das aufgetreten ist, besser lösen. Eine emotionsgeladene Reaktion, die unsere negativen Gefühle gegen uns selbst richtet und dazu dient, den inneren Druck durch “Bestrafung” abzureagieren, ist selten ein guter Ratgeber, auch wenn sie vielleicht kurzfristig funktioniert. Doch langfristig ist eine reflektierte und bedachte Reaktion nicht nur besser für unser Wohlbefinden, sie trägt auch dazu bei, dass wir in zukünftigen Situationen geduldiger mit uns selbst umgehen und uns selbst so behandeln, wie wir es verdienen und uns neutral und objektiv bewerten können.