Carpe diem

… bedeutet auf Deutsch so viel wie “Nütze den Tag.” Das lateinische Sprichwort soll dazu ermutigen, das Beste aus seiner Zeit zu machen, sie sinnvoll zu verbringen und den Tag so zu gestalten, dass man am Ende zufrieden darauf zurückblicken kann. Es schlägt damit in etwa in die gleiche Kerbe wie das ebenso bekannte “Memento mori”, eine ständige Erinnerung an die Vergänglichkeit unseres Seins und der Begrenztheit unseres Lebens. Unsere Gesellschaft hat diese Leitsprüche zutiefst verinnerlicht, schließlich werden alle möglichen und unmöglichen Angebote angepriesen, wie man seine Freizeit, seinen Urlaub, ja sogar nur seine einfachen, gewöhnlichen Abende verbringen könnte. Dabei wird viel Wert auf die “experience” gelegt, die hoffentlich lohnend und unvergesslich sein soll, eben so, dass man die Zeit genutzt hat.

Auch die Arbeitswelt lebt nach dem Motto, ist es doch nur ein etwas umformulierter Leitsatz für eine Leistungsgesellschaft: immer höher, schneller, weiter, effizienter, mehr, mehr, mehr, … Je höher der Umsatz, je geringer die Ausgaben, desto besser. Mehr Wachstum in kürzerer Zeit - natürlich. Und längere Arbeitszeiten, Überstunden und so richtige Verausgabung - bewundernswert. Wie könnte man einen Tag denn noch sinnvoller verbringen, als ihn mit haufenweise produktiver Arbeit, wichtigen Meetings und gewinnbringenden Geschäften zu füllen. “Das war ein erfolgreicher Tag” hört man Unternehmer, Verkäufer oder auch Menschen in anderen Berufen meistens dann, wenn viel erreicht wurde, wenn lang und hart gearbeitet oder große Mengen Geld erwirtschaftet wurden.

Auch in anderen Lebensbereichen wird deutlich, dass wir sehr viel wert darauf legen, möglichst VIEL zu tun, möglichst intensiv zu leben, zu arbeiten und sogar uns zu vergnügen, um am Ende des Tages (oder des Lebens) ja möglichst viel aus seiner Zeit gemacht zu haben. Erst letztens sprach ich mit meiner Schwester, die nach wochenlangen Unternehmungen, Urlauben mit Familie und verschiedenen Freundesgruppen und einem Konzertbesuch einige Tage Ruhe und weniger Programm hatte. Und obwohl die Wochen, um nicht zu sagen Monate zuvor so intensiv mit neuen Erfahrungen, Eindrücken und Erlebnissen gespickt waren, hatte sie schon ein Reuegefühl, die wenigen letzten Tage nicht “ausgenutzt” zu haben. Und sie ist damit nicht alleine, der “fear of missing out” (FOMO) ist sogar zu einem stehenden Begriff geworden. Sei es die Party am Abend, der möglichst perfekte Sommerurlaub oder sogar der perfekte Lebensweg, der genau dem entspricht, was man tun möchte - alle diese Dinge scheinen wir unbedingt haben oder erreichen zu müssen, um glücklich zu sein.

Bei mir löst schon das Schreiben dieser Zeilen einen ungeheuren Stress aus. Ich war immer schon ein Kind, dass sich selbst viel Druck gemacht hat, doch seit ich mich den ganzen Erwartungen der Gesellschaft, der sozialen Medien und auch meines engeren Umfeldes mehr bewusst geworden bin, hat sich dieser Druck noch einmal vervielfacht. Angefangen mit dem ständigen Leistungsdruck, der jeden Tag möglichst mit “sinnvollen” Aufgaben beruflicher oder ausbildungsbezogener Natur, also Lernen oder Aufgaben bearbeiten, zu füllen: Wenn am Ende des Tages möglichst wenige, möglichst kurze Pausen zu Buche stehen und ich “produktiv” war, erst dann bin ich zufrieden mit mir. Aber es kommen unweigerlich Tage, an denen man schlicht und einfach nicht so viel zu tun hat und sogar der übliche Haushalt und das obligatorische Training schon erledigt sind und dennoch Zeit übrig bleibt. Während dieser Zeit, wenn ich eigentlich zufrieden und froh sein könnte, einmal ein bisschen Luft zum Atmen zu haben, spüre ich dann den Stress, den ich mir selbst auferlege. Was, wenn die nächsten zwei Stunden nicht “sinnvoll” genutzt werden? Was, wenn ich nicht sofort wieder eine Beschäftigung finde, die einen Sinn hat und auf die ich am Ende des Tages stolz sein kann? Was kann ich lesen, was mich nicht nur unterhält, sondern einen “Mehrwert” mitbringt? Was kann ich für andere Menschen in meinem Umfeld tun, damit sie mich mögen und als guten, hart arbeitenden und nicht nur faul herumliegenden Menschen in Erinnerung behalten?

Während diese Fragen durch meinen Kopf rasen, möchte ich nicht falsch verstanden werden. Auch wenn ich vorhabe, die grundlegenden Glaubenssätze, die dieser Denkweise zugrunde liegen, zu hinterfragen, ist nichts Falsches daran, sich zu fragen, was man gerne möchte, wie man seine Zeit gerne nutzen möchte oder was einen erfüllt. Es geht hier nicht darum, dass ich es schlecht finde, wenn man gerne arbeitet und darin Erfüllung findet oder einfach seinen Urlaub, den man nur selten im Jahr bekommt, genießen möchte. Das sind alles völlig legitime Wünsche und Anliegen. Doch müssen sie immer mit so einem Druck besetzt sein? Müssen wir uns als Gesellschaft wirklich so viele Normen gegenseitig auferlegen, an denen wir uns dann messen können? Wäre es nicht genug, wenn jeder sein eigenes, druckloses Verständnis einen “gut genutzten Tages” hätte?

Wenn ich an das Wort “sinnvoll” denke, kommt mir als erstes Arbeit und als zweites Fürsorge für andere in den Sinn. Dabei muss diese möglichst sich auch wie Arbeit anfühlen, sonst hätte sie ja keinen Wert - die anstrengendsten Aufgaben sind doch sicher immer die “sinnvollsten”, oder? Hobbys oder Dinge, die wir gern tun, würden die wenigsten wohl wirklich als “sinnvoll” sehen - aber eben als schön, weil wir sie ohne Druck und Deadlines oder negative Konsequenzen bei schlechter Leistung betreiben können und weil wir es genießen, im Moment zu sein und diese Dinge zu TUN. Leider bleiben auch Hobbys vom Leistungsdenken nur selten verschont. Alle möchten gerne Marathons laufen, einen Ironman bestreiten, eine neue Sprache lernen oder einen neuen “Skill” erlernen - aber meistens nicht spielerisch, sondern möglichst schnell und gut. Wie viele Menschen, die man im Fitnessstudio trifft, würden auf die Frage nach ihrem Grund für den Besuch wohl antworten, dass es ihnen einfach bloß Spaß mache? Wahrscheinlich die wenigsten. Leistungsbezogene Antworten und Gründe wie “abnehmen”, “Muskeln aufbauen” oder “gesünder leben” hingegen wären wahrscheinlich die gängigsten Motive - nicht zuletzt werben Fitnessstudios mit diesen Dingen ja auch für ihre Mitgliedschaften. Und auch hier gilt - je mehr und je schneller, desto besser. Und das meistens auch im Vergleich zu anderen.

Je mehr ich über das Thema nachdenke, desto mehr bekomme ich das Gefühl, mein Leben nicht gut genug zu nutzen, nicht gut genug zu sein. Habe ich wirklich die richtige, produktivste und sinnvollste Ausbildung gewählt? Bin ich produktiv genug oder könnte ich vielleicht mehr tun? Was kann ich verbessern, was optimieren? Aber auch eine andere Frage drängt sich langsam auf: Warum?

Für wen soll ich das alles machen? Warum muss ich mich “verbessern”? Bin ich mehr wert, wenn ich alle diese Dinge optimiere? Werde ich dann mit mir zufrieden sein können? Oder immer noch mehr wollen? Auch wenn ich es oft selbst noch nicht in mir so spüre und den alten Glaubensmustern wieder verfalle, so bin ich mittlerweile doch zu der Überzeugung gelangt, dass viele dieser Druck und Stress bewirkenden Dogmen alles andere als gut für mich sind. Sie geben mir ein Gefühl der Unzulänglichkeit und machen mich glauben, immer mehr tun zu müssen, in erster Linie in Sachen Arbeit und Produktivität, um “genug” zu sein. Was für andere vielleicht wie eine positive Anregung zu mehr Lebensglück klingt, löst in mir eher einen Leidensdruck aus. Niemand von uns kann ständig und andauernd die Energie und Aufmerksamkeit besitzen, produktiv zu sein oder sich zu “verbessern”. Das gilt sowohl für den Beruf, die Arbeit und Ausbildung als auch den Freizeitbereich. Jeder Mensch braucht Pausen und hat das Bedürfnis nach Ruhe - wenn er dieses nicht unterdrückt oder ignoriert. Und besonders für die Freizeit gilt doch - ist nicht alles, was einfach nur Spaß macht, sinnvoll? Muss es immer ein Ziel, einen Fahrplan und einen “Fortschritt” geben, um die Zeit wert gewesen zu sein, um “das Beste aus seiner Zeit” gemacht zu haben? Und ist nicht jeder Tag ein Geschenk, egal, ob er von früh bis spät durchgetaktet oder vielleicht einfach einmal nur leer, spontan und möglicherweise ohne viel Programm ist?

Es würde mich sehr interessieren, was ihr, liebe Leser, über dieses Thema denkt. Sollte nicht jeder selbst nach seinen eigenen Kapazitäten und Bedürfnissen entscheiden, wie “viel” er an einem Tag tut oder schafft und wann es ihm oder ihr schlicht zu viel wird? Und was habt ihr für eine Definition von “sinnvoll”? Lasst es mich gerne wissen. Ich wünsche allen einen wunderschönen Tag und verabschiede mich damit für heute. Bis zum nächsten Mal, euer Jakob

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