Ankommen

Es gibt im Leben viele Situationen, in denen man an neuen Orten, in einem neuen Umfeld oder einer neuen Situation ankommt. Dieses Ankommen, der erste Eindruck und das Kennenlernen der Umgebung und der Umstände kann oft an einem Neuanfang stehen, wenn man den Wohnort, Job oder auch die Ausbildung wechselt, in einen neuen Lebensabschnitt tritt und sich viel verändert. “Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne” heißt auch ein bekanntes Sprichwort, das auch einen sehr wahren Kern hat. Man denke nur an Urlaubsorte, an die man meist eine intensive Erinnerung hat, obwohl man vergleichsweise sehr wenig Zeit dort verbracht hat. Doch alleine das Ankommen und sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen - wenn es auch nur für wenige Tage oder Wochen ist - hinterlässt prägende Erinnerungen.

In diesem Text soll es aber um eine andere Art des Ankommens gehen, die zwar nicht so “schnell” funktioniert wie wenn man einfach nur den Ort wechselt, die aber nicht minder bedeutsam ist: das Ankommen bei sich selbst. Aber was bedeutet es, bei sich selbst anzukommen? Jeder Mensch hat vermutlich eine etwas andere Vorstellung davon, doch für mich bedeutet es, wie an einem fremden Ort, sich selbst kennenzulernen. Wer bin ich? Was sind meine Werte? Was sind meine Ziele, Träume, Vorstellungen vom Leben? Was für ein Mensch möchte ich sein? Was erfüllt mich, was gibt mir Sinn? Was sind meine Interessen, was meine Stärken und was meine Schwachpunkte? Das sind nur einige Fragen, die für mich ganz essentiell sind, wenn es darum geht, bei sich selbst anzukommen. Es gibt aber noch etwas Fundamentaleres, was zum Prozess des Ankommens gehört und noch vor der Beantwortung dieser Fragen kommt: Nämlich die Fähigkeit, die Erlaubnis (von sich selbst) und das Bewusstsein, ein eigener Mensch zu sein, mit seinen ganz eigenen und einzigartigen Antworten auf die Fragen des Lebens - oder eben manchmal auch ohne.

Wenn wir geboren werden, sind wir zunächst hilflose kleine Geschöpfe, die auf die Fürsorge ihrer Eltern und anderen Bezugspersonen angewiesen sind. Je älter wir werden, desto neugieriger und abenteuerlustiger werden wir, doch noch lange Zeit kehren wir immer wieder (im Optimalfall) nach Hause zurück. Wir nehmen uns selbst noch in erster Linie als “Sohn oder Tochter von …” wahr, weil wir im Ernstfall auch noch auf deren Hilfe, Schutz oder Fürsorge angewiesen sind. Vor der Pubertät übernehmen wir auch recht unkritisch die Werte und das Weltbild unserer Eltern, wir halten sie für unfehlbar und tun (meistens), was sie von uns verlangen, weil wir noch nicht selbst alleine überlebensfähig wären. Ich wurde in der Heimatgemeinde meines Vaters des öfteren, wenn ich alleine Fußball spielen war, gefragt, wem ich denn “gehören” würde. Gemeint war damit, wessen Sohn ich war und dementsprechend fiel auch meine Antwort aus. Ich fand diese Frage nicht einmal komisch, da ich mich auch selbst damals in erster Linie so wahr nahm - als Kind meiner Eltern. Als solches ist man natürlich auch bis zu einem gewissen Grad abhängig von der Zuneigung und Liebe der Bezugspersonen, weshalb man sich so verhält, wie man glaubt, dass es diesen gefällt. Mir war dieser Gedanke immer sehr präsent. Und doch kommen die meisten Kinder irgendwann in ein Alter, in dem sie eigene Meinungen und Ansichten entwickeln und dies ihre Eltern spüren lassen, indem sie sich auf die eine oder andere Art distanzieren und beginnen, ihre eigenen Wege zu gehen - mit den ein oder anderen Irrwegen, aber doch mit dem klaren Ziel der Eigenständigkeit. Dieser Ablösungsprozess ist ganz natürlich, aber für beide Seiten oft nicht besonders angenehm. Die Elternseite möchte ihr Kind nicht verlieren, während dieses zwar weiß, dass es ein eigenständiger Mensch werden möchte, jedoch noch keine Vorstellung hat, wie das konkret aussehen könnte und deswegen belastet ist. Es ist genau während dieser Zeit, dass wir als Jugendliche beginnen, bei uns anzukommen - und dennoch schaffen dies Menschen aus den verschiedensten Gründen oft nicht oder nicht gänzlich. Manchmal sind es gesellschaftliche Vorstellungen und Ideale, die das Ankommen bei sich selbst stören, weil sie uns bestimmte Werte einimpfen, nach denen wir zu leben versuchen, ohne uns zu fragen, ob diese UNS auch wirklich entsprechen. Anderes Mal sind es Erziehung und strenge elterliche Vorstellungen, die die Entwicklung der eigenen Identität untergraben. Und eine weitere Möglichkeit ist, dass wir uns nicht trauen - entweder aufgrund schlimmer Erfahrungen, die wir mit Autonomiebestrebungen gemacht haben oder weil wir noch nicht bereit sind, uns gewisse Fragen zu stellen. Unter Psychologen ist diese Grundsicherheit auch unter dem Begriff “Urvertrauen” bekannt.

Natürlich kann auch eine Kombination dieser Faktoren dazu führen, dass wir uns es entweder nicht erlauben oder meinen, anderen gefallen zu müssen. Egal, was uns daran hindert, das Ergebnis bleibt dasselbe - wir leben nach den Werten anderer, zwängen uns in ein Korsett, welches nicht für uns gemacht ist und versuchen, ein Leben zu leben, welches anderen gefällt - doch bleiben dabei unglücklich oder entwickeln sogar andere Symptome. Es macht einen krank, gegen den eigenen Instinkt zu leben und nie wirklich bei sich selbst anzukommen und hindert einen auch daran, wirklich erfüllende Beziehungen zu führen. Denn paradoxerweise können wir am besten uns auf zwischenmenschliche Nähe und Beziehung einlassen, wenn wir uns selbst ebenfalls ganz nahe sind, da wir nur dann wirklich authentisch und ehrlich uns zeigen und in einer Beziehung wohlfühlen können, weil wir wissen, dass es okay ist, wie wir sind und dass wir nicht trotzdem, sondern gerade deswegen geliebt werden.

Nicht bei sich angekommen zu sein, bedeutet, sich selbst abzulehnen und sein authentisches Selbst auf die ein oder andere Art zu unterdrücken, weil wir uns falsch fühlen, wie wir sind. Wir möchten uns selbst, unser Wesen ändern, doch das ist nunmal nicht möglich. Sicher können wir uns bis zu einem gewissen Grad ändern, doch uns selbst, unseren inneren Kern, werden wir dabei nicht los. Egal, für welchen Weg wir uns entscheiden, am Beginn steht immer die Entscheidung, ob man bereit ist, sich zu sich selbst zu bekennen. Ob man bereit ist, sich zu akzeptieren und zu zeigen, wer man wirklich ist, ohne eine Maske aufzusetzen und sich zu verstellen. Wenn man mit sich selbst nämlich im Reinen ist, wird alles andere um vieles einfacher - wir stehen uns nämlich nicht mehr selbst im Weg. Wir sind fähig zu objektiver Selbstkritik, weil wir wissen, dass diese unseren Wert als Mensch nicht berührt. Wir kommen besser durch Tage, an denen es uns vielleicht nicht so gut geht, weil wir uns dennoch durch unsere eigene Präsenz beruhigen können - in uns ruhen können. Das bedeutet nicht, von sich selbst eingenommen zu sein, ganz und gar nicht, doch es bedeutet, auf sich selbst zu vertrauen zu können - und deshalb auch in unbequemen Situationen Frieden finden und das Positive sehen zu können, ohne dabei auf äußere Hilfe angewiesen zu sein.

Wenn man sich den Zustand der Welt und die Menschen im Alltag ansieht, dann gibt es wohl nur wenige, die wirklich bei sich angekommen sind und nicht in der ein oder anderen Form mit sich kämpfen. Doch darin liegt nicht unbedingt das Problem, denn nicht immer bei sich zu sein passiert den geübtesten und selbstbewusstesten Menschen ebenfalls, wenn das Leben einmal stressig wird - das ist menschlich. Meiner Ansicht nach liegt das Problem eher darin, dass die allermeisten Menschen noch “gut genug” funktionieren, ihre Probleme noch wegschieben oder durch andere Dinge überlagern können. Das hindert sie nämlich daran, den anfangs sehr furchteinflößenden und unangenehmen Blick nach innen zu richten. Sich mit sich selbst und dem Kern seines Wesens zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, kann zwar sehr heilsam und unglaublich befreiend sein - doch es macht einen natürlich auch unglaublich verletzlich. Es ist, als würde man alle Abwehrstellungen abziehen und sich dem vermeintlichen Gegner schutzlos ausliefern, weil man alle Masken, alle unbewussten Selbstschutzmechanismen ablegt und sich zeigt, wie man ist. Freiwillig und ohne Grund kommen nur wenige Menschen auf die Idee, diese Reise zu sich selbst anzutreten und leben deshalb lieber ihren Alltag weiter. Erst, wenn Schicksalsschläge keinen anderen Ausweg mehr zulassen, wenn sich Menschen in die Enge getrieben fühlen, das Leiden nicht mehr aushaltbar wird und die Fassade Risse bekommt - erst dann gelingt es manchen Menschen, einen ehrlichen Blick auf sich selbst zu nehmen. Es ist irgendwie traurig, dass es meistens schwerwiegendere Formen psychischer Leiden braucht, die einen Menschen so erschüttern, dass alles, was er bisher zu wissen glaubte, in sich zusammen fällt und er zu reflektieren und zu wachsen beginnt. Dass zuerst alles zusammenbrechen muss, damit etwas Neues entstehen kann - doch oft ist das der Fall.

Viele Menschen leben mit negativen Glaubenssätzen, die ihr Selbst- und Weltbild massiv eintrüben, ohne dass sie es merken. Wie bei einem Eisberg liegen unter der Oberfläche alle Enttäuschungen, Verletzungen und die damit verbundenen Gefühle verborgen, vielleicht ein Leben lang. Nur bei jenen Menschen, bei denen es entweder zu viele solcher Erfahrungen sind oder andere belastende Erinnerungen sich wieder bemerkbar machen, weil sie durch einen Vorfall im Hier und Jetzt getigert werden, gelangen sie an die Oberfläche. Die Ablehnung des Selbst ist dann nicht mehr nur subtil, sondern manchmal auch ganz offensichtlich - durch selbstschädigendes Verhalten, Selbstsabotage oder andere Symptome, die mitunter auch verschiedene Krankheitsbilder ergeben. Diese führen aber zu einer massiv eingeschränkten Lebensqualität und manchmal zwingen sie Menschen auch dazu, zu intervenieren, auf Stopp zu drücken, sich Hilfe zu holen. Erst dann, wenn wir bereit sind, uns ehrlich uns selbst zuzuwenden und unsere Glaubenssätze zu hinterfragen und auf die Probe zu stellen, erst dann beginnt der lange, steinige und alles andere als geradlinige Weg zur Heilung. Manche Menschen schaffen es nie, wirklich ehrlich zu sich selbst zu sein und sich jemandem zu öffnen, zu sehr schmerzt es, wenn alte Erinnerungen oder Glaubensmuster an die Oberfläche geraten und infrage gestellt werden. Doch bei all jenen, die dazu bereit sind, diesen Schmerz zu überwinden, den Weg zu gehen und alles zurückzulassen, was sie bisher geglaubt zu haben, auf die kann auch etwas sehr Schönes warten - wenn sie dann bei sich selbst ankommen.

Bei sich selbst anzukommen bedeutet nicht, sich immer gut zu fühlen, im Gegenteil - vielleicht bedeutet es eine Zeit lang sogar, sich vorwiegend schlecht zu fühlen. Der Unterschied liegt darin, alle Gefühle zuzulassen, sie nicht zu unterdrücken oder zu zensieren und sie zu akzeptieren, auch wenn sie sich im Moment unangenehmer anfühlen als wenn man sie mit altbewährten Mustern verdrängt. Dafür ist man aber auch in der Lage, schöne Gefühle intensiv wahrzunehmen und das Leben mit allen Höhen und Tiefen so richtig zu erleben und nicht die Hälfte der Zeit zu verpassen, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, irgendwelche Aspekte von sich verborgen zu halten. Es ist sicher der anstrengendere Weg, mit allem fertig werden zu müssen, was einen ausmacht, es ist furchteinflößend, intensiv und manchmal eine Berg- und Talfahrt. Doch das bedeutet nicht, dass es das nicht wert ist. Denn die Belohnung ist eine gewisse Gelassenheit, die alles von einer höheren Warte betrachtet und akzeptieren kann, wie es ist. Das Wissen und Gefühl, bei sich zu sein und zu sich stehen zu können, nicht von allen gemocht werden zu müssen, sich deswegen auch nicht verstellen zu müssen und zeigen zu können, wie man ist. Kurzum, sein ganz eigenes und einzigartiges Leben im Hier und Jetzt erleben zu können und dabei auch vor unangenehmen Dingen nicht zurückschrecken zu müssen - es sich aber auch nicht härter machen zu müssen, als nötig, da man für seine Bedürfnisse einstehen darf, kann und möchte.

Sich zu erlauben, man selbst zu sein, klingt einfacher als es ist und macht häufig nach außen auch gar keinen großen Unterschied. Zwar befürchten wir, dafür verurteilt zu werden, haben Angst, dass uns dann niemand mehr mögen könnte und versuchen deshalb, uns den Vorstellungen und Erwartungen unserer Gesellschaft, unserer Eltern, ja sogar unserer Freunde anzupassen, um akzeptiert zu werden. Doch in den allermeisten Fällen entpuppt sich die Annahme, sonst zurückgewiesen zu werden, als schlichtweg falsch. Uns selbst wenn es Menschen gibt, die uns dafür kritisieren, dass wir sind, wie wir sind oder unsere Träume, Bedürfnisse und Interessen ernst nehmen, so sagt das doch mehr über diese Menschen selbst aus als über uns. Wir erwarten ja auch nicht, dass sich andere Menschen unserem Weltbild anpassen und immer so verhalten, wie wir es gerne hätten - im Gegenteil. Meistens merken wir, wenn andere Menschen nicht authentisch oder unsicher sind und deshalb meinen, sich verstellen zu müssen und genau das ist es, was uns eher stört. Doch für uns selbst macht es einen riesigen Unterschied. Wir leben entweder in der ständigen Anspannung, unser wahres Selbst verbergen zu müssen oder verurteilen uns dafür, dass wir “so” sind und nicht anders. Aber vielleicht müssen wir das gar nicht. Vielleicht ist es okay, genau so zu sein, wie wir sind. Vielleicht hat uns nur unsere Gesellschaft, unser Elternhaus oder unser (dann nicht gerade guter) Freundeskreis vermittelt, dass wir anders sein sollten. Egal, was der Grund dafür war, ich glaube, dass jeder sich selbst die Frage stellen darf, wie er oder sie selbst sein möchte.

Möchte ich mich ein Leben lang verstellen?

Möchte ich den Kern meines Wesens verstecken, ohne überhaupt zu wissen, wie dieser ankommen würde?

Möchte ich ein Leben lang Menschen “anziehen”, die eher mit meinem falschen als mit meinem wahren Ich sympathisieren?

Möchte ich lieber ehrlich und verletzbar oder unehrlich und vermeintlich unangreifbar bleiben, jedoch dadurch nichts wirklich an mich heranlassen können?

Ich hoffe, dass sich jeder Leser durch diese Zeilen ermutigt fühlt, er oder sie selbst zu sein oder sich vielleicht überhaupt zum ersten Mal erlaubt, zu erforschen, wer das sein könnte. Wir leben nur einmal, da wäre es doch schade, das Leben eines oder einer anderen zu leben, auch wenn es uns natürlich auch verwundbar macht. Doch am Ende wird es es wert sein, davon bin ich fest überzeugt. Ich wünsche jeder und jedem Leser/in dieser Zeilen alles, alles Liebe und Gute und verabschiede mich für heute…

Euer Jakob

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