Perfektionismus
In der ein oder anderen Form werden wahrscheinlich die allermeisten Menschen schon mit dieser leisen (oder aber auch lauten) Stimme im Hinterkopf ihre Bekanntschaft gemacht haben: ein zunächst kaum wahrnehmbares Flüstern, dass sich aber je nach Situation auch in ohrenbetäubendes, aber dennoch nur für einen selbst hörbares Geschrei verwandeln kann. Ein strenger Tonfall und wie mit erhobenem Zeigefinger kommt die Kritik wie das Amen im Gebet: “Das reicht nicht! Das ist noch nicht gut genug! Das ist noch lange nicht fertig!” Perfektionismus betrifft sehr viele Menschen und kann sehr belastend sein. Kein Wunder, denn auch von außen bekommen wir, ob direkt oder subtil, ständig vermittelt, dass wir uns “verbessern” sollten, dass wir nicht “gut genug” sind, wenn wir einfach nur wir selbst sind. Unsere Gesellschaft verehrt die wenigen Erfolgreichen und erklärt Misserfolg mit Faulheit und mangelndem Engagement. Das Motto “Jeder ist seinen eigenen Glückes Schmied” ist allgegenwärtig und die Ellenbogentaktik findet leider nicht nur in der Wall Street, sondern auch in den Gassen der Kleinstädte und den Markthallen der Dörfer Anwendung. Jeder versucht, andere Mitstreiter zu überflügeln, sich zu verbessern und so im Ansehen und auch finanziell aufzusteigen - das Wort “Hustle Culture” hat Einzug in den normalen Sprachgebrauch gehalten.
Aber nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, auch privat haben viele Menschen mit einem unermüdlichen inneren Kritiker zu kämpfen. In einer Welt, in der ständig kritisiert, getadelt und nach Fehlern gesucht wird, machen wir uns unbewusst zusätzlich selbst noch fertig, indem wir alle unsere Bemühungen als unzureichend, fehlerhaft und eigentlich fast schon dilledantisch abtun. Zum Einen kann das als Selbstschutz dienen, da man bei Kritik noch an der “Ausrede” festhalten kann, dass man es ja selbst noch als “unfertig” betrachtet, was man sich vorgenommen hat. Sehr oft steckt aber auch ein niedriger Selbstwert und ein tief verwurzelter Zweifel an sich selbst dahinter. So können alle unsere Lebensbereiche von den Zweifeln betroffen sein, vom Job angefangen über unsere (Rolle in) Beziehungen bis hin zu ganz banaler Selbstabwertung. Wir bekommen aber auch von außen vermittelt, dass Leistung und Produktivität über allem stehen und unser Leben darin bestehen sollte, nach Perfektion in irgendeiner Art oder Form zu streben. Dieser Druck kann, wenn wir ihn nicht reflektieren, abbauen und darüber reden, erdrückend schwer werden und uns die Kehle zuschneiden. Aber wozu das alles?
Danach zu streben, etwas zu erreichen, sein Leben in die Hand zu nehmen und sich selbst zu beweisen, zu was man alles fähig sein kann, ist ja per se nichts Schlechtes. Auch der Ansatz, dieses Vorhaben strukturiert und geplant in Angriff zu nehmen, erscheint sehr vernünftig - solange wir nicht unsere “Ergebnisse” mit unserem Wert als Menschen gleichsetzen. In diesem Moment wird nämlich eine Möglichkeit und Gelegenheit, ein positiv motiviertes Vorhaben, sich selbst zu fordern und gleichzeitig zu fördern, zu einer kaum aushaltbaren Qual. Es macht einen enormen Unterschied, welche mentale Ausgangslage man hat und mit welcher Motivation man ein Ziel anstrebt. Die wenig vorteilhafte, sondern viel eher belastende Version des Perfektionismus geht davon aus, dass man selbst im Status quo in irgendeiner Art und Weise unzulänglich, also “nicht genug” ist.
Erst, wenn man wirklich alles gegeben und das letzte Prozent aus sich herausgeholt hat, kann man dann zufrieden mit sich sein - doch wird man diesen Punkt jemals erreichen? Bei sehr vielen, wenn nicht den meisten Menschen, zu denen viele junge Leute aufschauen und denen sie nacheifern, macht sich am Höhepunkt der sportlichen, unternehmerischen oder künstlerischen Karriere jedoch ein Phänomen bemerkbar. Nicht viele, aber immer mehr profilierte Größen ihres Metiers fangen nun auch langsam an, darüber zu reden, was im Sport als “Post-Olympic-Depression” bekannt ist. Einer der erfolgreichsten Sportler aller Zeiten, Michael Phelps, die Ausnahmekönnerin und mehrfache Olympiasiegerin im Turnen Simone Biles und auch andere Sportgrößen leiden oder litten unter dieser psychischen Erkrankung, die paradoxerweise dann auftritt, wenn alle Welt eigentlich davon ausgeht, dass man am glücklichsten sein müsste: Nach dem Gewinn einer olympischen Medaille, am Ziel all seiner Träume. Wenn man alles erreicht hat, was es zu erreichen gibt und es kein nächstes Ziel, keine größere Errungenschaft mehr gibt, die man anstreben könnte - selbst dann fühlten sich diese Sportler leer, nicht genug, unzulänglich. Ein vergleichbares Schicksal kann auch junge Mütter nach einer Geburt treffen, wenn sie an einer postpartalen Depression erkranken. Egal, wie nahe der “Perfektion” diese Menschen kommen, das Ziel scheint immer doch gleich weit entfernt, wenn man im Inneren nicht mit sich im Reinen ist. Deshalb ist Perfektionismus auch so zerstörerisch: Man verspricht sich von einem gewissen Ziel, von einer gewissen Exzellenz die Erleichterung, sich gut genug zu fühlen, was vielleicht im ersten Moment auch auftritt. Doch schon nach wenigen Minuten, Stunden oder im besten Fall Tagen ist die Errungenschaft Schnee von gestern, den “perfekt” kann man ja noch nicht sein. Also steckt man sich ein neues, noch größeres Ziel und immer so weiter - doch ohne dabei jemals die Zufriedenheit und Gelassenheit zu erlangen, die man sich erhofft.
Dennoch hat Ehrgeiz natürlich auch positive Seiten, nur bleibt die Frage, mit welcher Einstellung man dann das Ziel anstreben sollte, sich selbst weiterzuentwickeln? Ein hilfreicher Gedanke könnte sein, dass der eigene Wert nicht von irgendeiner Leistung oder Errungenschaft abhängt. Egal ob die Zahl am Bankkonto, der Körperfettanteil oder die Zahl der Follower - alle diese Dinge können entweder messbare Meilensteine sein, “objektive” Parameter, an denen wir unseren Fortschritt messen und unseren Erfolg quantifizieren können. Oder aber wir beginnen, in ihnen einen Selbstzweck zu sehen und unseren Wert über sie zu definieren. Es ist nicht falsch, sehen zu wollen, dass sich unsere Bemühungen, einem Ziel näher zu kommen, auszahlen und es sind auch sehr hilfreiche Tools, um unsere Herangehensweise zu evaluieren und ob diese erfolgversprechend ist. Doch keine Zahl der Welt kann unseren Wert als Menschen ändern, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Erfolg fühlt sich gut an und neue Fähigkeiten zu erlangen ebenfalls - doch das sind Dinge, für die wir uns entscheiden, keine notwendigen To-do’s, um weiterhin eine Daseinsberechtigung zu haben. Selbst wenn wir also einmal kein “Ziel” haben, ist das nicht verwerflich oder schlecht - denn es reicht, wenn wir einfach sind, wer wir sind und wir müssen uns nicht “optimieren”.
Von dieser Grundannahme ausgehend ist es auch viel weniger stressig oder belastend, eine Verbesserung anzustreben, da unsere Identität nicht so stark mit der “Leistung” identifiziert ist. Das macht den ganzen Prozess nicht nur angenehmer, er gibt uns auch den Spaß zurück und die Fähigkeit, nach links und rechts zu schauen und alle schönen und positiven Erfahrungen auf unserem Weg zum Ziel mitzunehmen. Ganz abgesehen davon, dass dieser Ansatz viel schöner und positiver ist, so könnte er zusätzlich noch zielführender sein. Man nehme nur wieder den Sport als Beispiel: Viele Athleten, deren Einkommen und Existenz von ihrer Leistung abhängig sind, trainieren verbissen und hart, überlassen nichts dem Zufall und verkrampfen oft in den entscheidenden Situationen, wenn es darauf ankommt. Die wirklich erfolgreichen Sportler aber, die Ausnahmekönner ihrer Disziplinen, legen natürlich auch die richtige Arbeitsmoral an den Tag, doch nicht um jeden Preis. Sie scheinen dabei ihre Leichtigkeit zu bewahren und können auch mit Rückschlägen besser umgehen. Außerdem betreiben sie ihren Sport aus Leidenschaft, des Sportes selbst wegen - und nicht nur, weil sie sich etwas beweisen oder ein bestimmtes Ziel erreichen wollen. Natürlich brauchen auch sie ein gewisses Maß an Engagement, Disziplin und Genauigkeit bei der Planung und Exekution ihres Trainings. Doch der Anspruch dabei ist nicht, perfekt zu sein, sondern das Training so zu gestalten, dass es am meisten Spaß macht und langfristig Früchte trägt, anstatt auf kleinen Details herumzuhacken.
Was, wenn wir also nicht aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit, sondern aus Neugier, zu was wir alles fähig sind, unsere Ziele verfolgen? Aus Leidenschaft und Freude an der Sache selbst und nicht immer nur mit dem Ergebnis vor Augen?
“A man who loves walking will walk further than a man who wants to get to a destination.” - Sal di Stefano
Ein Vorhaben zu fassen, zu planen und dann alles dafür zu tun, sein Ziel zu erreichen, kann eine enorme Bereicherung und wunderschön sein - oder eine Quälerei, eine Tortur und eine tägliche Erinnerung daran, dass wir nicht gut genug sind. Doch was, wenn wir das nicht beweisen müssten? Was, wenn unser Wert schon außer Diskussion wäre, bevor wir überhaupt einen Gedanken an unser Projekt, unseren Traumjob oder unser sportliches Ziel gehabt haben? Alles, was wir tun, zu was wir uns herausfordern, sollte in erster Linie FÜR uns sein. So viele Menschen arbeiten gegen sich oder gehen mit der Einstellung durch die Welt, beweisen zu müssen, dass sie nicht wertlos sind. Doch das muss kein Mensch dieser Welt beweisen und es muss auch niemand sich ehrgeizige Ziele stecken, wenn er oder sie das nicht möchte. Und wenn man es doch tut, sollte man sich dabei immer eine gewisse Leichtigkeit und Leidenschaft bewahren - denn das Leben ist zu kurz und zu wertvoll, es damit zu verbringen, sein Dasein zu rechtfertigen.