Man muss sich zuerst selbst lieben
“Man muss sich erst selbst lieben, bevor man von anderen geliebt werden kann.”
Diesen Spruch hört man immer wieder - doch was steckt wirklich dahinter? Und trifft er (entwicklungspsychologisch) überhaupt zu? Diesen Fragen möchte ich im heutigen Artikel auf den Grund gehen.
Anfangs muss jedoch geklärt werden, wie der Spruch überhaupt gemeint ist. Meistens wird er so verstanden, dass Menschen, die nur ein geringes Selbstwertgefühl aufweisen, sich schwer tun, Zuwendung oder Liebe anzunehmen. Das kann zu Schwierigkeiten führen, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen und hat zur Folge, dass manche Menschen sich immer “die falschen Partner aussuchen”. Dabei geht es nicht darum, dass sie diese Entscheidung willentlich treffen, sondern viel mehr darum, dass sie vertraute Muster unbewusst wahrnehmen und deshalb wiederholen. Wenn ein Mensch also im Innersten schwere Zweifel an sich selbst hat, so tendiert er dazu, im Außen ebenfalls Personen zu suchen, die durch ihr Verhalten dies bestätigen, wenn auch nur subtil und auf den ersten Blick nicht erkennbar. Die daraus entstehenden Abhängigkeiten und toxischen Beziehungen sind natürlich alles andere als angenehm, doch für das mächtige Unbewusste sind sie vertraut und bleiben auch deshalb oft länger bestehen, als es den Betreffenden gut tut. Hat ein Mensch hingegen ein gesundes Selbstbewusstsein und behandelt sich selbst auch gut, ist er sich also seines (Selbst-)Wertes bewusst, wird er eher Menschen zum/zur Partner/in nehmen, die ihm dies ebenfalls vermitteln. Dabei geht es weniger um offensichtliche Verhaltensweisen als viel mehr um das, was wir zwischen den Zeilen sagen, hören, erwarten, nicht erwarten, wo wir Grenzen wahren und respektieren, wo wir Bedürfnisse und Sorgen des jeweils anderen ernst nehmen - oder eben nicht. Man würde zwar glauben, dass diese Dinge in einer Beziehung selbstverständlich sind, doch oft handelt es sich um so gut versteckte, kaum auffallende und auch unbewusst geschehende Dinge, dass wir diese gar nicht wahrnehmen (zumindest nicht bewusst) - nicht einmal die Beteiligten selbst, wenn sie nicht ausführlich darüber reflektieren. Ein niedriger Selbstwert kann sich aber nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch bei banalen Dingen zeigen, wenn man sich zB schwer tut, Komplimente anzunehmen. Letzten Endes liegt allen angesprochenen Dingen aber ein Muster zugrunde: Ein Mensch, der grundsätzlich vom eigenen Wert überzeugt ist, kann auch Liebe empfangen. Trifft dies jedoch nicht zu, fühlen sich Menschen also unzulänglich, dann können paradoxerweise gerade positive Gefühle Zweifel wecken, ob man diese denn überhaupt verdient oder wie es sein kann, dass andere einen positiver wahrnehmen, als man selbst zu sein glaubt.
Wir wiederholen immer jene Dinge, die uns vertraut vorkommen und suchen in der Welt nach den Dingen, die unsere “inneren Theorien” bestätigen - so gesehen hat der Spruch am Anfang des Artikels durchaus seinen Wahrheitsgehalt. Nun aber “das Pferd von hinten” aufzuzäumen und zu behaupten, dass Menschen im Leben zuerst Selbstliebe lernen müssen, bevor sie zu innigen Liebesbeziehungen fähig sind, ist etwas zu kurz gegriffen, besonders wenn man das Thema aus entwicklungspsychologischer Sicht betrachtet.
Im Mutterleib, bei der Geburt und besonders in den ersten drei Lebensjahren haben Menschen nämlich noch kein Bewusstsein ihrer selbst und nehmen sich viel mehr als Teil ihres Umfeldes wahr. Außerdem ist das Gehirn noch nicht fertig entwickelt und noch sehr formbar und der kleine Mensch ist, wie nie wieder danach in seinem Leben, existenziell von der Liebe seiner engsten Bezugspersonen - seiner Eltern - abhängig. Das ist keine Entscheidung oder Sympathie, die das Baby für seine Bezugspersonen hegt, sondern pure Evolutionsbiologie. Gelingt die Bindung an die Eltern nämlich nicht, dann droht dem Neugeborenen schnell der Hunger- oder ein anderer Tod. Es ist somit auf einer elementaren Ebene auf die Liebe seiner Eltern angewiesen und wird alles tun, um diese zu bekommen, egal, was dazu nötig ist. Im Optimalfall sorgen die Eltern gut für das Kind, geben ihm zu essen, wenn es Hunger hat, trösten es, wenn es weint und kommen sofort zu ihm, wenn es schreit oder ein anderes Bedürfnis äußert. So kann sich das Kind sicher fühlen, es entwickelt ein Vertrauen in die Welt und die Grundlage für einen gesunden Selbstwert wird auf neurologischer Ebene gelegt, weil das Gehirn sich unter entspannten, stressfreien Bedingungen entwickeln kann und bei Stress von außen durch seine Bezugspersonen beruhigt wird. Werden die Bedürfnisse des Neugeborenen jedoch (über längere Zeit) nicht oder nur unregelmäßig oder unberechenbar erfüllt, so muss das Kind immer wieder für es selbst schlimme Stresssituationen aushalten, da es ja selbst nicht rational beurteilen kann, ob eine Situation nun wirklich bedrohlich ist oder nicht. Das Gehirn wird in seiner Entwicklung davon ebenfalls beeinflusst und das Urvertrauen, dass ein Kind später in sich, die Welt und die Menschen um sich herum haben wird, leidet darunter. Das Kind lernt schnell, dass seine Bedürfnisse “zu viel” für das Umfeld sind und verstummt irgendwann aus Resignation, wenn niemand kommt, um es zu beruhigen. Das kann nach außen so wirken, als hätte es “sich selbst beruhigt” - doch dazu ist es in diesem Alter noch nicht in der Lage. Viel mehr hat es aufgegeben und ist von dem Mangel an Zuwendung frustriert. Und genau hier widerspricht die entwicklungspsychologische Sicht dem Leitspruch dieses Artikels - denn Selbstwert entsteht nicht dadurch, dass das Kind lernt, sich selbst zu lieben. In der Entwicklungsphase, in der der Grundstein für den Selbstwert nämlich gelegt wird, hat es unter Umständen noch nicht einmal ein Verständnis für “ich” und “du” entwickelt. Es ist dafür aber auf ganz basaler Ebene von der Liebe seines Umfeldes abhängig, wodurch es dann auch einen Selbstwert entwickeln kann. Dies erfolgt also durch die Liebe anderer!
Wenn ein Mensch später im Leben hartnäckige Selbstwertprobleme hat, die sich nicht unmittelbar auf ein Ereignis beziehen, sondern eher als ungutes “Grundgefühl” ihn ständig im Alltag begleiten, dann ist es nicht einfach mit ein paar Selbstliebe-Affirmationen getan. Natürlich können diese als letzter Schritt dazu beitragen, dass der Erwachsene seine tief verwurzelten Glaubenssätze umschreibt. Doch zuallererst gilt es einmal festzuhalten, dass er als Kind vermutlich nicht (ausreichend) geliebt wurde. Wäre dies der Fall, so könnte er sich heute auch selbst lieben - doch war dem eben nicht so, dann kann es sein, dass er im späteren Leben immer wieder unter einem niedrigen Selbstwert leidet.
Es stimmt also, dass nur Menschen, die auch mit sich selbst im Reinen sind, eher dazu fähig sind, eine gelingende Beziehung oder Freundschaft zu leben und auch die Zuwendung der anderen Seite anzunehmen. Doch daraus zu schließen, dass diese Menschen "nur selbst ihre Arbeit machen müssten”, um ihren Selbstwert zu verbessern, ist dabei etwas zu kurz gegriffen, denn dieser entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus entwicklungspsychologischer Sicht aus Liebe von anderen Menschen - und das sehr früh im Leben. Ja, diese Erkenntnis zu haben, aufzuarbeiten und Schritt für Schritt am eigenen Selbstwert zu arbeiten ist die Aufgabe eines jeden selbst und kein Partner kann dieses Loch, das schon viel früher entstanden ist, für sein Gegenüber füllen. Doch wir entwickeln unseren Selbstwert im Normalfall ebenfalls in Beziehung und keinesfalls alleine, so viel steht fest.
Ich hoffe, ich konnte dich mit diesem Artikel erreichen und dir vielleicht eine etwas neue Perspektive auf die Themen “Nächsten- und Selbstliebe” schenken. Ich freue mich über jedes Feedback! Alles Gute und bis bald! Jakob