Selbsthilfe und ihre Grenzen

Das Internet ist voll von motivierenden Quotes, Mindset-Tipps und Tools, die “Gamechanger” für unseren Fokus und unsere mentale Ausrichtung sein sollen. Die Sparte der Self-Help-Bücher ist eine der ertragreichsten am Markt und regelmäßig erklimmen neue Bestseller die Charts von Amazon und Co. Auch Podcasts und andere Ressourcen beschäftigen sich eingehend mit dem “richtigen Mindset”, dass uns befähigen soll, unsere Ziele zu erreichen, die Menschen zu finden, die zu uns passen und uns von Gewohnheiten (“Habits”) und auch Personen zu lösen, die unserem Leben nicht zuträglich sind.

Ich bin (eigentlich) ein großer Fan all dieser Quellen, die immer wieder Inspiration und Motivation liefern und oft auch leicht umsetzbare, aber doch sehr wirkungsvolle Dinge enthalten, die tatsächlich bei all den aufgezählten Dingen helfen können. Mit großem Interesse habe ich Bücher wie “Atomic Habits” von James Clear gelesen und fand einige Gedanken darin zwar vielleicht nicht einzigartig oder neu, aber doch eben auf eine andere Art und Weise formuliert, sodass sie für mich besser verständlich und leichter umzusetzen waren. Es wird ja immer wieder Kritik an dieser Sparte von Büchern laut, weil jedes neue vermeintlich nur alte Ideen neu verpackt und anschließend wieder verkauft. Das mag auf sehr viele Bücher zutreffen, doch meiner Meinung nach ist das nichts Schlechtes, denn so verschieden wie die Menschen, so unterschiedlich sind auch die Zugänge zu bestimmten Ideen und auch wenn diese im Kern vielleicht die gleichen sein mögen, so findet ein anderer Autor vielleicht doch noch bessere Worte, um einem ein Konzept näherzubringen. Außerdem lernen wir ja auch durch Wiederholung und es braucht mehrere Durchgänge, in denen wir ein bestimmtes Wissen wieder ins Bewusstsein rufen und immer neue Verknüpfungen herstellen, bis wir es wirklich verinnerlicht haben - und gerade dafür können unterschiedliche Ansätze extrem wertvoll sein. Selbst wenn man also “The power of habit” gelesen hat, bedeutet das nicht, dass der Inhalt von “Atomic Habits” nicht vielleicht auch einen Wert für den Leser behält und eine Lektüre wert ist. Denn würden wir Menschen eine Idee gleich beim ersten Mal voll umfänglich begreifen, bräuchte es nur ein Buch, eine Universallektüre und wir hätten alle Tools in der Hand, doch offensichtlich ist das nicht der Fall.

Ein weiteres - etwas plakatives - Beispiel ist auch der Trend zu “Mindfulness” und Meditation. Wenn hier ein Ansatz für alle funktionieren würde, hätte Yoga vermutlich es nie nach Europa geschafft, weil alle Menschen religiös wären und jeden Sonntag (oder vielleicht öfter) die Messe besuchen würden, die viele Elemente davon beinhaltet, was heute in Mindset-Ratgebern zu lesen ist: Einen eigenen Ort, um zur Ruhe zu kommen, Dinge anzunehmen, die man nicht (mehr) ändern kann (und um Vergebung zu bitten), ein Ritual der Dankbarkeit und eines der Nächstenliebe beim Friedensgruß. Man könnte aber auch argumentieren, dass wir alle Stoiker wären, weil es das Christentum nie geschafft hätte, so viele Anhänger zu finden, wenn die Ideen, die auf diese antike griechische Philosophie zurückgehen, ein Ansatz für alle gewesen wäre. Demnach bin ich der Ansicht, dass jedes neue Selbsthilfebuch seine Daseinsberechtigung hat, auch wenn es keine “neuen” Informationen enthält. Ein neuer Blickwinkel, eine andere Perspektive und alleine die Wiederholung (in der Medizin “Rekonsolidierung” genannt) tragen viel dazu bei, dass wir den Inhalt besser, umfänglicher und ganzheitlicher verstehen, verinnerlichen und mehr zu unserem Vorteil nutzen können.

Wenn “self-help” nicht mehr ausreicht

Für viele Menschen reicht es, in herausfordernden Zeiten (oder optimalerweise schon davor) solche Selbsthilfebücher zu lesen, um besser mit privaten Problemen, Schicksalsschlägen oder Tiefpunkten im Leben umzugehen. Manche brauchen vielleicht auch “nur” sozialen Beistand, die richtigen Menschen um sich herum oder sind auch alleine resilient genug, mit den Unwegsamkeiten des Lebens fertig zu werden. Das ist allerdings nicht bei jedem Menschen der Fall. Es gibt auch das Gegenteil: Menschen, die Selbsthilfe-Bücher verschlingen, jedes zweimal lesen, sich Notizen machen und alle darin vorgeschlagenen Ratschläge und Tipps auf Punkt und Beistrich genau befolgen - und dennoch nicht das Gefühl haben, sich dadurch besser zu fühlen. Und genau an diesem Punkt liegt die Grenze der Selbsthilfe-Literatur: Ist eine Person grundsätzlich stabil genug, gesund und psychisch auf der Höhe, so können Affirmationen, Meditationen, “Mindfulness-Übungen”, Atemtechniken, Habit-Tracking, -stacking, time-blocking etc. sehr bereichernde Tools sein, um seine innere Ausgeglichenheit, seine mentale Gesundheit oder seine Produktivität zu verbessern. Alle diese Strategien können, müssen aber nicht für jeden funktionieren, doch einen Versuch sind sie allemal wert, wenn man auf diesem Gebiet etwas ausprobieren möchte.

Doch viele der Menschen, die überhaupt zu Selbsthilfe-Büchern greifen, stoßen mit den einfachen, gut gemeinten Tipps oft an ihre Grenzen. Zwar setzen sie sie eine Zeit lang konsequent um, merken jedoch nicht ihren positiven Effekt oder es bleibt ein Gefühl der Unzulänglichkeit und das nächste Buch landet im Einkaufskorb. Doch auch wenn die Ansätze und Tipps sicher hilfreich sind, gibt es verschiedene Fälle, in denen kein Selbsthilfe-Buch mehr dazu in der Lage ist, Probleme zu lösen. Und das ist immer dann der Fall, wenn die Probleme tiefer liegen als “nur” auf der Verhaltensebene, wenn Emotionen, Glaubenssätze und kindliche Prägungen damit verknüpft sind. Es ist keine “Schwäche” der Betroffenen, wenn auch die fünfte Journaling-Methode nur temporär funktioniert oder keine “Mindfulness”-Übung wirklich zu tiefer Entspannung führt. Während das bei gesunden Menschen nämlich möglicherweise schon der Fall ist, so können früh belastete Personen möglicherweise nicht im gleichen Ausmaß profitieren. Das sollte jedoch nicht als Versagen angesehen werden, sondern viel mehr als ein Zeichen, vielleicht genauer hinzuschauen und sich dabei professionelle Unterstützung im Rahmen einer Psychotherapie zu suchen.

Wir Menschen sind Meister des Verdrängens und noch dazu lebten wir lange in einer Zeit, in der mentale Gesundheitsprobleme mit großen Stigmata belastet waren und zum Teil immer noch sind. Noch vor wenigen Generationen war es überhaupt nicht üblich, über mentale Gesundheit überhaupt ein Wort zu verlieren und Probleme wurden nicht aufgearbeitet, sondern unter den Tisch gekehrt, um nicht verurteilt zu werden. Wie die Forschung aber zeigt, verschwinden diese Probleme dann nicht einfach so, sondern werden - zum einen über Erziehung und Verhalten, zum anderen auf (epi-)genetischer Ebene - an die nächste Generation weitergegeben, so lange, bis das Fass schließlich überläuft. Es mag vielleicht hart klingen, aber alle Probleme, Trauma und Komplexe, die eine Generation nicht bearbeitet, wird automatisch an die nächste vererbt, die dann mit Symptomen und Problemen zu kämpfen hat, die sie vielleicht nicht einmal zuordnen kann. Selbst wenn wir heute also der Meinung sind, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben oder es “keinen Anlass” für eine Therapie gibt, kann ich jedem Menschen nur wärmstens empfehlen, so eine dennoch eine Zeit lang zu besuchen, da man nur davon profitieren kann. Leider ist das Stigma heute immer noch so groß, dass Menschen lieber anonym zu Büchern greifen, um selbst zu versuchen, Löcher in ihrem Herzen und ihrer Seele mit bildlichen Pflastern zu stopfen, als professionelle Hilfe aufzusuchen.

Ist das (verborgene) Leid eines Menschen nämlich zu groß, eine Verletzung zu schwer oder ein (verdrängtes oder vererbtes) Trauma zu groß, so reicht die bloße Lektüre von Mindset-Artikeln nicht mehr aus. Ich möchte nochmals betonen, dass diese unglaublich inspirierend und motivierend sein können, wenn man Ziele für sich definiert und verfolgen möchte, doch um dies auch im Vollbesitz seiner Kräfte tun zu können, muss man zuerst mit sich selbst im Reinen sein. Ansonsten besteht die “Gefahr”, dieses Ziel nur als Ablenkung von tiefer liegenden Problemen zu missbrauchen und davor davonzulaufen, indem man sich immer mehr auf ein Projekt versteift und Scheuklappen aufsetzt - bis es nicht mehr geht und alles zusammenstürzt. Es ist keine eigene Schwäche oder Unzulänglichkeit, wenn “Mindset-Shifts” und “motivatonal quotes” alleine nicht ausreichen, dass man sich angekommen und motiviert fühlt. Es können ganz wunderbare Dinge sein, wenn man dafür empfänglich ist und sich auch nicht verunsichern lässt - doch das erfordert einen gesunden und aufrechten Selbstwert, den man eben nur dann hat, wenn man mit sich im Reinen ist.

Wenn du also psychische Probleme hast oder auch nur den Verdacht, weil selbst das wiederholte Konsumieren von Büchern, Podcasts und Texten zu Motivation und “Disziplin” dir immer nur das Gefühl geben, selbst zu schwach zu sein, überlege dir, vielleicht eine therapeutische Behandlung bzw. Begleitung in Anspruch zu nehmen. Du tust damit nicht nur dir, sondern möglicherweise auch zukünftigen Generationen nur Gutes und einen großen Gefallen, indem du den Kreislauf des Schweigens durchbrichst.

Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg! Alles Liebe, Jakob

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Man muss sich zuerst selbst lieben