Wenn man zu viel wahrnimmt

Ich habe mir immer schon viele Gedanken gemacht, die andere Kinder in meinem Alter vielleicht eigenartig gefunden hätten. Außerdem war ich immer etwas zögerlich, wenn viele Menschen auf einem Haufen waren, mich “ins Getümmel” zu stürzen. Ich verbrachte die Zeit auf (Familien-)Veranstaltungen immer lieber am Rand, in überschaubarem Rahmen und mit wenigen Gesprächspartnern, auf die ich mich konzentrieren kann. Man könnte sagen, ich war einfach ein schüchternes Kind, aber mit der Zeit habe ich entdeckt, dass etwas mehr dahinterstecken muss.

Mit ungefähr 16/17 Jahren stieß ich erstmals auf das Konzept der “Hochsensibilität”, die laut einschlägigen Büchern ungefähr 1/5 aller Menschen betrifft. Sie nehmen Gefühle, äußere Eindrücke und Reize jeglicher Art stärker war als die restlichen 80% und können deswegen schneller reizüberflutet oder überfordert wirken und auch werden. Wahrscheinlich ist auch die Sensibilität wie viele andere Charaktereigenschaften von Menschen einfach auf einem Spektrum angesiedelt und man müsste dieser Eigenschafts-Ausprägung nicht unbedingt einen Namen geben. Dennoch war es für mich erleichternd, zu wissen, dass alles, was ich schon als “zu viel” empfand, keine Schwäche, sondern einfach eine Eigenschaft von mir war. In gewissen Situationen mag diese hinderlich sein, in anderen kann sie aber auch Vorteile haben - insgesamt darf ich es aber neutral bewerten, dass ich einfach viel wahrnehme und darf auch darauf Rücksicht nehmen. Diese Erkenntnis war sehr entlastend für mich, da ich bis zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen war, dass ich mich einfach “zusammenreißen” müsste, was aber immer nur dazu führte, dass ich mich erschöpft und ausgebrannt fühlte, selbst wenn ich von eigentlich erfreulichen Ereignissen mit vielen netten und befreundeten Menschen wieder nach Hause kam, wie etwa nach Familienfeiern. Es fiel mir plötzlich auf, wie oft ich eigentlich über meine eigenen Grenzen der Belastbarkeit ging, ohne es zu merken. Erst, als ich mir erlaubte, regelmäßig zur Ruhe zu kommen und Abstand zu gewinnen, kam ich zum ersten Mal wirklich in Kontakt mit mir selbst, was zuvor kaum möglich gewesen war.

Natürlich kann ich diese Wahrnehmung nicht einfach an- oder ausschalten. Zuerst dachte ich, dass das möglich sei und machte mir Sorgen, dass ich nun, da ich mir dessen bewusst war, ein völlig anderer Mensch werden würde und nicht mehr empathisch sein könnte. Eine komische Sorge, aber sie trieb mich dennoch irgendwie um. Doch dann merkte ich - wieder im Nachhinein - wie tief ich wirklich blicken musste, um zu verstehen, was ich wahrnahm. Ich würde es Menschen, die vielleicht nicht gleich “fühlen”, in etwa so erklären: Wenn man einen Film ansieht, identifiziert man sich meistens stark mit einer bestimmten Figur, ob diese nun die Hauptperson ist oder nicht, hängt natürlich sowohl von der Rolle als auch dem Zuseher ab. Im Laufe des Films durchleben die Protagonisten verschiedene Gefühle, die meistens bis auf den Zuseher überspringen und Menschen im Kino zum Weinen, Lachen oder zur Weißglut treiben können. Sie fühlen die Gefühle der Person im Film. Stellen Sie sich nun vor, dies auch im echten Leben zu tun: anstatt die eigenen Gefühle wahrzunehmen, spüren Sie plötzlich mehr die allgemeine Stimmung im Raum und die Gefühle, die jeder einzelne Mensch ausstrahlt. Genau so würde ich es beschreiben, wenn ich meine Wahrnehmung in Worte fassen würde. Doch das ist nicht immer ganz einfach, besonders weil ich mich dadurch, dass ich die Stimmungen so intensiv wahrnehme, indirekt auch dafür verantwortlich fühle, für Harmonie und Wohlgefühle zu sorgen. Geht es den anderen gut, geht es mir gut - das war sehr lange Zeit mein Lebensmotto, bis ich mich selbst darin verlor bzw. entdeckte, dass es da noch mehr gab - nämlich meine eigenen Gefühle, die so lange nicht zum Vorschein kamen. Wenn ich nämlich alles in meiner Macht stehende - und mehr - getan hatte, dass sich alle wohl fühlten und dies auch tatsächlich erreichte, konnte ich in Kontakt zu mir treten. Dies war allerdings erst möglich, wenn sonst alles “gelöst” erschien. Als ich dann aber merkte, dass ich dadurch nicht glücklich wurde, sondern wahrnahm, wie erschöpft ich war und wie sehr ich meine eigenen Gefühle die ganze Zeit unterdrückt hatte, wurde ich ein bisschen stutzig. Bis dahin hatte ich die Gefühle der anderen wie meine eigenen wahrgenommen, aber weil es mir selten gelang, dass alle glücklich waren, wusste ich immerhin, warum es auch mir nicht so gut gehen konnte, weil ich deren Unbehagen spürte. Aber als es mir eigentlich gut gehen sollte, weil alle um mich herum glücklich waren, und ich es dann nicht war, sondern mich nur leer fühlte, konnte ich erkennen, dass es da noch mehr gab.

Diese intensive Wahrnehmung kann Fluch und Segen zugleich sein. Stimmungen schnell und intensiv wahrzunehmen kann es einem ermöglichen, auf andere einzugehen, empathisch zu sein und zu helfen, wo es nur geht, allerdings hat es auch Nachteile. Lange Zeit hatte ich zum Beispiel die Vorstellung, dass es mir nicht gut gehen durfte, wenn irgendjemand sonst Probleme hatte. Dies ist aber in einer großen Familie so gut wie immer der Fall, wodurch ich mich auch ständig dazu verpflichtet fühlte, gerade zu rücken, was in Schieflage geraten war. Das jeder sein eigenes Leben zu leben und zu managen hatte, verstand ich erst viel später. Stattdessen glaubte und glaube ich auch heute unbewusst noch immer oft, dass ich derjenige bin, der Menschen um mich herum glücklich machen muss, der sich sein eigenes Glück auch damit verdienen muss. Ich möchte nicht sagen, dass das per se schlecht sein muss, wenn man zum Wohlbefinden anderer beitragen möchte, nur bleibt die Frage, bis zu welchem Ausmaß diese Bemühung noch gesund ist und wie weit man gehen kann und soll. Für mich gab es lange darauf nur eine Antwort - bis das Problem eben gelöst ist. Doch dieser Ansatz war oft nicht erfolgreich und ich konnte deshalb auch selbst nicht glücklich sein, weil das immer davon abhing, wie es allen anderen ging, selbst wenn es mir selbst eigentlich gut ging und ich keinen Stress und keine Verpflichtungen hatte. Eine solche emotionale Abhängigkeit mag in einem gewissen (Kleinkind-)Alter noch normal sein. Kinder sind auf das Wohlwollen ihrer engsten Bezugspersonen angewiesen, weshalb sie Streit vermeiden. Aber spätestens in der Pubertät lernt jeder Mensch, dass er auch alleine lebensfähig ist und die Abhängigkeit schwindet zusehends. Schließlich entwickelt jeder Mensch einen Zugang zu den eigenen Wünschen, Vorstellungen und Gefühlen. Natürlich kann ihm deshalb das Wohl der Eltern, Bekannten, Geschwister und Freunde immer noch wichtig sein, doch er oder sie werden dadurch nicht definiert, weil sie eigene, unabhängige Wesen sind, die eigene Jobs haben und eigene Gefühle fühlen. Genau dieser Prozess - so fühlt es sich manchmal für mich an - hat (noch) nicht richtig stattgefunden und wird vielleicht auch nie so ganz stattfinden. Nicht, weil ich mich dagegen wehre, sondern weil es meine Wahrnehmung kleiner Nuancen in meinem Umfeld einfach nicht möglich macht oder zumindest stark erschwert, wenn ich nicht mit Scheuklappen und Ohrenschutz durchs Leben gehen möchte.

Die Lösung des Problems liegt deshalb in einer bestimmten Abgrenzung. Man kann die Gefühle anderer auch spüren, aber sie nicht so nah an sich heranlassen bzw. denken, für diese verantwortlich zu sein. Natürlich ist das eine Übungssache und funktioniert nicht von heute auf morgen. Aber dennoch ist es möglich und wichtig und vor allem auch erlaubt. Meine Angst war dabei immer, egoistisch zu sein, wenn ich anderen ihre Probleme selbst überließ und mich nicht zu 100% ebenfalls damit auseinandersetzte, um schnellstmöglich zu einer Lösung zu kommen. Doch auch wenn das vielleicht kurzfristig erwünscht und gefordert wäre, so ist es doch für alle Beteiligten besser und gesünder, auf sich selbst zu achten. Das bedeutet keineswegs, dass man sich gegenseitig nicht unterstützen und emotional füreinander da sein kann, im Gegenteil. Oft ist dies sogar viel einfacher und besser möglich, weil man so eine viel beruhigendere Einflussnahme haben kann, ohne sich selbst mit dem Problem zu identifizieren und mit dem Gegenüber nur das Leid zu teilen. Stattdessen kann man optimistisch, einfühlsam und aus neutraler Position der Person helfen, die Probleme selbst zu lösen, was sich für diese wahrscheinlich ebenfalls viel besser anfühlt. Aber auf der anderen Seite bewahrt man ebenfalls den Kontakt zu sich selbst und muss nicht seine Gefühle und Wahrnehmungen zugunsten jenen der “anderen” hinten anstellen . denn das geht selten länget gut.

Es hat mich lange belastet, dass ich so sehr spüre, wenn die Stimmung nicht so gut ist und ich mich persönlich dafür verantwortlich fühlte. Bei mir zu bleiben kommt mir auch heute noch egoistisch vor und manchmal glaube ich auch, dass ich es bin, wenn ich meinen eigenen Weg gehe. Doch langfristig gesehen habe ich endlich verstanden, dass dies der einzige Weg zu ganzheitlicher Gesundheit ist.

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