Was schulde ich anderen?

Seit ich denken kann, und so geht es wahrscheinlich vielen, spüre ich es ziemlich gut, wenn jemand aus meinem Umfeld Erwartungen an mich hat. Natürlicherweise sind das, solange man noch ein Kind ist, die Eltern, die einem gewisse Werte anerziehen wollen, von denen sie erwarten, dass diese eingehalten werden. Viele davon sind sehr sinnvoll und notwendig, damit ein gutes Zusammenleben funktionieren kann, etwa, dass man sich entschuldigt, wenn man einen Fehler erkennt, den man gemacht hat und der vielleicht jemand anderem geschadet oder diesen verletzt hat. Aber je älter ich wurde, desto mehr wurden die Erwartungen, die ich unbewusst vielleicht auch von der Gesellschaft gespürt habe, mehr von Kleinigkeiten zu Grundhaltungen bis hin zu meiner “Rolle” und Identität, die ich einnehme. Ich war immer ein guter Schüler, weshalb es ab einem gewissen Punkt von mir erwartet wurde, dass ich keine Hilfe beim Lernen benötige und immer eigenständig und gewissenhaft alle meine Pflichten erfülle. Darauf war ich auch eine Zeit lang sehr stolz, doch je länger man eine gewisse Rolle einnimmt, desto selbstverständlicher wird es für andere, wie man sich benimmt, was man leistet, braucht oder eben auch nicht - eben was von einem zu erwarten ist. Während meine Schwester keine Probleme damit hatte, auch einmal “unbequem” für meine Eltern zu sein, war es mir immer sehr unangenehm und ich war lieber brav und angepasst, als einen Streit zu riskieren. Überhaupt bin ich sehr harmonieliebend und sehe bzw. sah keinen Sinn darin, mich für etwas einzusetzen oder mich gegen einen Widerstand zu positionieren, wenn das nur für schlechte Stimmung sorgte. Ich gebe niemandem sonst die Schuld daran, doch irgendwann wurde genau dieses angepasste Verhalten auch von mir erwartet, was mir rückblickend nicht gerade geholfen hat.

Es ist vollkommen normal, sich in seinen Bedürfnissen, Vorlieben und Interessen voneinander zu unterscheiden. Natürlich müssen wir in einer Gesellschaft deshalb Kompromisse eingehen und uns manchmal im Interesse der Gesamtheit unterordnen, doch grundsätzlich dürfen wir auch zu uns stehen. Jeder Mensch sollte in unserer Gesellschaft Platz haben, so wie er ist und nicht deswegen ausgeschlossen werden, weil sich seine Persönlichkeit von der Masse abhebt. So weit war es bei mir jedoch lange nicht gekommen. Es ging lediglich darum, meinen Platz einzunehmen, ohne dass dieser irgendwie gegen gesellschaftliche Normen verstoßen hätte. Nur wäre ich eben nicht mehr der angepasste Sohn, der kleine Jakob gewesen, der bei allem mitmacht und nie einen Wunsch äußert, der im Widerspruch zu den Bedürfnissen anderer steht. Doch genau dieser Prozess ist elementar, um zu einer respektierten, erwachsenen Person zu werden, die ihren Platz einnimmt.

Lange war mir das aber nicht bewusst. Stattdessen meinte ich, dass mein “Platz” und meine Rolle eben darin besteht, nicht aufzufallen, weil ich von Natur aus kein lauter oder extrovertierter Mensch bin. Ich habe erst später verstanden, dass Introvertiertheit und dennoch zu sich zu stehen einander nicht ausschließen. Ich habe meine Identität also darauf aufgebaut, es anderen recht zu machen, wobei ich einer Frage gut ausweichen konnte: nämlich was ich selbst eigentlich vom Leben möchte und was mir entsprechen könnte. Vielen Erwachsenen und Erwachsenden geht es glaube ich ähnlich: Sie befinden sich in einem inneren Konflikt zwischen gesellschaftlichen und familiären Erwartungen und den eigenen Träumen, die sie im Vergleich als egoistisch empfinden und sie sich deshalb nicht zu leben trauen. Schließlich haben die Eltern so gut für einen gesorgt (im Optimalfall) und da möchte man ihnen den Wunsch, zB in ihre Fußstapfen zu treten nicht abschlagen. Oder man war in Mathematik gut in der Schule und das gesamte Umfeld erwartet von einem, zu studieren und akademisch eine Karriere anzustreben - obwohl man eigentlich viel lieber Frisör werden würde. Ich denke, langfristig gesehen ist es wichtig, solche Situationen zu erkennen und dann SEINEM Herzen zu folgen. Ich habe sehr lange das Gegenteil versucht, was aber nie dazu geführt hat, dass ich mich dadurch besser gefühlt hätte oder pflichtbewusst, da ich ja erwartungsgemäß gehandelt, meine “Schulden” also beglichen habe. Stattdessen steht man irgendwann an einem Punkt der inneren Leere und stellt sich die Frage nach dem “warum”. Vielleicht fühlt es sich im ersten Moment egoistisch an, den eigenen Weg nach den eigenen Vorstellungen zu gehen, doch es gibt genug gute Gründe, warum das eben nicht der Fall ist. Natürlich wird man von außen zunächst signalisiert bekommen, dass man doch eher den vorgezeichneten Weg wählen sollte. Doch was wünschen uns unsere Eltern langfristig am meisten: dass wir glücklich sind. Wann sind wir nicht nur am produktivsten, sondern auch am hilfreichsten für die Gesellschaft: richtig, wenn wir Freude an dem haben, was wir tun.

Ein guter Frisör, der lächelnd jeden Tag zur Arbeit kommt, ist nicht weniger Wert als ein Wissenschaftler mit Selbstzweifeln und wenig schöpferischer Kreativität. Es ist nicht falsch, anderen Menschen manchmal einen Gefallen zu tun und ihnen Wünsche zu erfüllen - im Gegenteil. Doch wenn es um unsere Lebensplanung, unsere eigenen Träume, Wünsche und Ziele geht, dann schulden wir niemandem eine Rechtfertigung und sollten den initialen Widerstand immer im Kauf nehmen. Es zahlt sich nämlich langfristig aus - für uns selbst natürlich, aber auch für andere.

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Wenn man zu viel wahrnimmt