Das Problem von Trainingsstudien
In der “Fitness-Community” gibt es schon seit Längerem einen Trend zu “Science-based-lifting”, also einem Trainingsansatz, der sich primär daran orientiert, was aus wissenschaftlicher Sicht das “optimalste” Training in Bezug auf Muskelaufbau ist. Inzwischen gibt es viele leidenschaftliche Verfechter des “Science-based-lifting”, die immer neue Studien zitieren und ihren Ansatz verfeinern und perfektionieren, angefangen vom optimalen Volumen für eine bestimmte Muskelgruppe bis hin zur Widerstandskurve verschiedener Übungen, die einander im Optimalfall perfekt ergänzen, sodass man jedes Bewegungsmuster in allen Phasen stark belastet. Fitnessstudio-Neulinge, aber auch Krafttrainingserfahrene, die vielleicht nicht ganz so tief in die Materie eintauchen wollen, werden von diesen neuen und teilweise widersprüchlichen Empfehlungen teilweise verunsichert. Hätten sie von Anfang an etwas anders machen sollen? War ihr Training bisher komplett ineffektiv? Oder bei Anfängern: wie sollen sie überhaupt anfangen? Ich möchte mit diesem Artikel etwas Licht ins Dunkel bringen und Orientierung im Dschungel an Studien und Empfehlungen geben - und warum man vielleicht gar nicht alles so ernst nehmen muss, was die Wissenschaft am laufenden Band produziert.
Problem #1 - Kontinuität
Das erste Problem mit dem wissenschaftlich “perfekten” Plan ist jenes der Kontinuität. Jedes Training, das nicht auch wirklich durchgeführt wird, ist am Ende unproduktiv und die meisten Menschen scheitern nicht daran, dass ihr Training nicht “perfekt” ist und sie dadurch keine Ergebnisse erzielen, sondern schaffen es nicht, über einen längeren Zeitraum regelmäßig überhaupt zu trainieren. Vor man sich also den Kopf darüber zerbricht, wie genau man nun für optimale Muskelzuwächse trainieren sollte, gilt es erstmal, eine stabile und kontinuierliche Routine zu entwickeln, mit der man es regelmäßig ins Training schafft. Jedes Training ist besser als gar kein Training und fast jeder Ansatz wird auch Ergebnisse bringen, auch wenn er vielleicht nicht aus jeder Hinsicht “optimal” ist. Ein wichtiger, aber oft vernachlässigter Faktor dabei ist aber Spaß. Ein Training, das keinen Spaß macht, wird nur für eine sehr begrenzte Zeit funktionieren, wenn es dem Betreffenden keinen Spaß macht, denn irgendwann wird dieser die Motivation verlieren und gar nicht mehr ins Training gehen. Was nützt einem der beste Plan, wenn er keinen Spaß macht? Manche Menschen mögen es, wenige Sätze mit maximaler Intensität zu trainieren, andere wiederum bleiben lieber länger im Gym, machen mehr Sätze und mehr Volumen, weil sie dadurch den Muskel besser ansteuern können. Wahrscheinlich würden beide auch vom gegenteiligen Ansatz von Zeit zu Zeit profitieren, doch wenn ihnen diese Methode keinen Spaß macht, dann sehe ich auch keinen Grund, warum sie sie unbedingt in ihren Trainingsplan integrieren können. Jeder hat andere Ansprüche an sein Training und daran, wie es in den Alltag hineinzupassen hat, weshalb ich hier zu mehr Pragmatismus raten würde - denn ein optimales Training kann in der Theorie noch so effektiv sein - wenn es am Ende nicht auch Spaß macht und in das eigene Leben passt, dann wird es langfristig nicht mehr, sondern weniger Erfolg bringen.
Problem #2 - Durchschnitte
Jede Trainingsstudie hat eine bestimmte Zahl an Probanden, die nach bestimmten Kriterien ausgewählt werden. Um die Ergebnisse zu interpretieren, werden alle Individualergebnisse zusammengerechnet und ein Durchschnitt gebildet, der, laut den Studienautoren IM MITTEL die Ergebnisse wiedergibt, die von verschiedenen Trainingsmethoden, -philosophien oder -übungen zu erwarten sind. Und während genau das für seriöse Forschung benötigt wird, so ist es doch auch die größte Schwäche der Wissenschaft, weil Studien nichts über den Einzelfall aussagen. Jeder Mensch ist einzigartig und reagiert mit seiner eigenen Physiologie, Trainingserfahrung, Übungsausführung etc. ganz anders auf ein bestimmtes Trainingsprogramm als ein anderer. Studien können demnach vielleicht einen Anhaltspunkt liefern, welche Prinzipien durchschnittlich am erfolgsversprechendsten sind, doch im Einzelfall kann ihre Aussagekraft auch beinahe 0 betragen. Die Ergebnisse aller Studien haben auch Ausreißer, also Probanden, bei denen ungewöhnlich stark abweichende Resultate erzielt werden und genau dasselbe ist auch in der Gesamtbevölkerung zu erwarten. Nur, weil zahlreiche Studien belegen, dass 10-20 Sätze pro Muskelgruppe pro Woche optimal sind, bedeutet das nicht, dass manche Individuen von mehr oder weniger Trainingsvolumen nicht vielleicht noch mehr profitieren könnten.
Weiters werden Trainingsstudien oftmals an einer Kohorte (einer Gruppe von Menschen) Untrainierter durchgeführt. Diese reagieren tendenziell auf jede Form des Trainings gut, da sie noch viele Anpassungen machen können, was aber nicht zwangsläufig am perfekten Training, sondern mehr am Mangel an Trainingserfahrung liegen kann. Nur, weil eine untrainierter Männer und Frauen mit 50 also von einer Ganzkörpertrainingseinheit mit niedrigen Gewichten pro Woche gute Erfolge erzielen können, muss das für einen trainierten 20-jährigen Bodybuilder mit jahrelanger Erfahrung nicht auch zutreffen. Und auch umgekehrt werden die Ergebnisse an einer Gruppe Fortgeschrittener in dieser Form nicht 1:1 auf Anfänger übertragbar sein, ohne Überlastungen oder Verletzungen zu riskieren.
Das bedeutet nicht, dass die Wissenschaft an sich etwas falsch macht, denn auch bei Medikamenten beispielsweise muss man einfach wissen, wie und ob diese bei der breiten Bevölkerung wirken. Doch sie sagen eben nicht zwingend etwas über den Einzelfall und dessen Reaktion auf die in der Studie untersuchte Intervention aus, da wir alle eben einzigartig und keine “Durchschnittsmenschen” sind.
Problem #3 - Intraindividuelle Unterschiede
Was für einen Athleten eine Zeit lang funktioniert, muss nicht zwangsläufig immer zu gleichen Ergebnissen führen. Je länger man trainiert und je größer die Trainingserfahrung wird, desto mehr wird man an seine natürlichen Leistungsgrenzen kommen und dementsprechend langsamer werden weitere Fortschritte im Training zu erwarten sein - man erreicht ein sogenanntes Leistungsplateau. Interessanterweise kann eine Veränderung des Trainingsstils (zB schwerere Gewichte, längere Pausenzeiten, höhere Trainingsfrequenz etc.) genau in diesen Situationen helfen, weitere Adaptionen des Körpers zu provozieren. Während eine Trainingsmethode also vielleicht zu einem Zeitpunkt nur suboptimale Ergebnisse gebracht hat, so kann sie bei derselben Person (!) zu einem anderen Zeitpunkt genau das richtige sein. Man kann also nicht einmal beim selben Athleten davon ausgehen, dass dieser, wenn er “seine” perfekte Methodik gefunden hätte, diese auch für sein ganzes Leben anwenden kann, geschweige denn bei verschiedenen Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen, Genen und Vorlieben.
Fazit - “Do what works for you”
Trainingsstudien können ein wunderbarer Startpunkt bei der Erstellung des eigenen Trainingsplans sein, da sie Information darüber liefern, wie die MEISTEN Menschen auf ein spezifisches Training reagieren. Besonders, wenn man noch keine Vorerfahrungen hat, lohnt es sich also, diese Ergebnisse als Orientierung zu verwenden. Dabei sollten sie aber nicht - wie in der “science-based”-Community propagiert, als in Stein gemeißelt betrachtet und 1:1 umgesetzt werden. Viel mehr sollten sie als Ausgangspunkt für eigene Experimente dienen: man könnte höhere Intensitäten oder Volumina, Frequenzen, Satzpausen, Übungen etc. ausprobieren und am Ende nicht nur jene Methodik auswählen, von der man (objektiv betrachtet) die besten Ergebnisse erzielt, sondern auch, welche Art des Trainings einem am meisten Freude bereitet. Dazu lohnt es sich, eine Zeit lang mehrere Methoden auszuprobieren, denn nur, wenn man wirklich einige Wochen oder Monate nach einer Methode trainiert, kann man auch wirklich Fortschritte miteinander vergleichen. Gleichzeitig gibt einem diese Zeit die Möglichkeit, sich auf das Training einzulassen und zu spüren, ob man es mag und ob es zum persönlichen Lebensstil und seinem Alltag und anderen Verpflichtungen passt. Den im Unterschied zu Profisportlern muss der Trainingsplan von Freizeitathleten nicht nur die besten Resultate liefern, sondern sollte auch in den Terminkalender passen - und da kann es sein, dass eine tägliche 3h-Einheit mit langem Stretching und Sauna zur Regeneration einfach nicht hineinpasst.
Ich kann also jeden Trainierenden, ob Anfänger oder Fortgeschritten, nur ermutigen, für sich selbst herauszufinden, was einem am meisten Spaß macht und für einen selbst funktioniert. “Science-based” Kraftsportler können dabei sicher auch wertvolle Informationen zu (meistens) effektiven Trainingsplangestaltungen liefern, doch im Einzelfall sollte man sich nicht zu sehr auf die Tipps einzelner Personen (auch nicht “science-based”) verlassen, da jeder Körper anders funktioniert und sich an Trainingsstress anpasst. Hilfreich kann es sein, sich einen Trainer zu leisten, der die eigene Leistungsfähigkeit beobachten und evaluieren kann, denn dieser hat - neben Studien - auch eine Menge Erfahrung mit Menschen außerhalb eines Labors und wie diese auf unterschiedliche Ansätze reagieren. Diese Erfahrung, gepaart mit einem guten Bauchgefühl und einer Portion Hausverstand ermöglichen es einem wahrscheinlich eher, den bestmöglichen Plan für sich selbst zu erstellen, als einfach blind dem zu folgen, was die neueste Studie vermeintlich so eindrucksvoll belegt. Und dabei sollte man auch nie vergessen, dass jedes Training besser ist als ein optimales, das nicht regelmäßig durchgeführt wird.
In diesem Sinne viel Spaß und Erfolg beim Experimentieren! Euer Jakob