Die Meinung der anderen
Ich möchte in diesem Blog ganz offen und ehrlich sein: Was ich hier schreibe, damit habe ich selbst große Schwierigkeiten - und ich glaube, ich bin damit nicht allein. Wie am Titel des Artikels zu erkennen ist, geht es darum, wie viel Gewicht wir der Meinung oder dem Standpunkt anderer Menschen in unserem Leben geben. Wie wichtig ist es uns, wie andere Menschen über uns denken? Wie weit sind wir bereit, uns zu verbiegen, um uns zugehörig zu fühlen? Wie viel von uns selbst sind wir bereit, zurückzulassen, um anderen zu gefallen? Jeder Mensch möchte sich bis zu einem gewissen Grad zugehörig fühlen. Wir sind von Natur aus soziale Wesen und von Geburt an auf “Bindung” angewiesen: als Babys von jener Beziehung zu unseren Eltern, später dann zu Gleichaltrigen und irgendwann vielleicht zu unserem Partner und unseren Kindern. Eine gesunde Bindung zu anderen Menschen - seien es Familie, Freunde oder Partner - kann sehr erfüllend sein, da wir gegenseitig unsere sozialen Bedürfnisse nach Anerkennung, Lob und Wertschätzung, aber auch Trost, Mitgefühl und Beistand erfüllen und so gemeinsam die Höhen und Tiefen des Lebens besser durchstehen können als alleine. Solche Beziehungen geben uns außerdem ein Gefühl von Sicherheit und die Gewissheit, nicht alleine zu sein, egal was passiert, immer jemanden zu haben, an unserer Seite zu wissen. Doch unser Bedürfnis nach genau solchen Bindungen, nach Zugehörigkeit und Sicherheit, kann uns auch auf eine negative Art und Weise beeinflussen.
Wenn wir ehrlich sind, gibt es nur sehr wenige Beziehungen, die oben genannte Kriterien erfüllen. Wie viele Menschen kennen wir, bei denen wir wirklich sein können, wie wir sind und uns bedingungslos akzeptiert und geliebt fühlen, egal ob das Gegenüber nun mit allem, was wir tun und lassen einverstanden ist oder nicht? Neben unserer engsten Familie (im Optimalfall) gibt es wohl nur sehr wenige oder vielleicht auch gar keine Freunde, die diese Kriterien erfüllen. Das ist nicht unsere Schuld, sondern auch Glückssache, auf welche Menschen wir wann in unserem Leben treffen. Unser Bedürfnis danach, Teil einer Gemeinschaft zu sein, das ist allerdings nicht einfach “abschaltbar”. Und gerade wenn wir uns nicht “sicher” und “gesehen” fühlen in den Beziehungen, die wir führen, kann es sein, dass wir eher dazu veranlasst werden, uns mehr Gedanken - ob bewusst oder unbewusst - zu machen, was dafür denn notwendig wäre. Und oft liegt die kontrollierbare, naheliegende Lösung bei uns selbst. Wir müssen doch irgendetwas “falsch” gemacht haben, dass wir nicht so geliebt werden können, wie wir sind - das ist dann die irrationale, aber leider oft erste Erklärung, die uns wieder das Gefühl gibt, etwas an unserer Lage zu verändern. Wir müssen auch nicht aus wirklicher seelischer Not heraus handeln, oft genügt es, einfach zu einer Gruppe dazugehören zu wollen, dass wir dafür bereit sind, jemand anderes zu sein als wir selbst. Eine Maske aufzusetzen und uns zu verstellen und so zu handeln, dass wir eben dazupassen und akzeptiert werden, auch wenn das nicht unseren Werten, Zielen oder Wünschen entspricht.
Bis zu einem gewissen Grad ist es auch ganz normal, dass wir in unterschiedlichen Kontexten andere Rollen einnehmen und unser Verhalten anpassen. Solange wir im Kern wissen, wer wir sind und Menschen haben, bei denen wir das auch ausleben können, muss daran auch nichts verkehrt sein, auch wenn es natürlich schön wäre, wenn wir in jedem (sozialen) Kontext voll und ganz wir selbst sein könnten. Wenn wir aber unser Leben lang versuchen, dazuzugehören, gesehen zu werden und akzeptiert zu werden und dies aber nie wirklich bekommen, so verlieren wir uns selbst. Wir gelangen zu der Überzeugung, im Innersten “falsch” zu sein und nicht akzeptiert werden zu KÖNNEN und beginnen, uns immer und überall zu verstellen. So können wir nie die Erfahrung machen, so wahrgenommen zu werden, wie wir wirklich sind und entfernen uns immer mehr von uns selbst. Nicht selten liegt das in unserer Kindheit begründet und der Selbstwert von Betroffenen kann stark darunter leiden. Jede Meinung von anderen wird zu einem Urteil über uns, jede Kritik ein Schuldspruch und jede Meinung ein Dogma, nach dem sie zu leben haben, aus Angst, sonst wertlos zu sein und verlassen zu werden. Egal, ob unsere Selbstzweifel so tief verankert sind und beinahe unser ganzes Leben bestimmen, oder ob sie “nur” ab und zu dafür sorgen, dass wir uns anders verhalten, als es uns eigentlich entspricht - ich möchte uns alle ermutigen, damit aufzuhören, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Selbstachtung
Wir können von anderen nur dann erwarten, dass sie uns wahrnehmen, wertschätzen und sein lassen, wie wir sind, wenn wir das auch selbst tun. Nur, wenn wir uns selbst mit Respekt und Selbstachtung begegnen, unsere Meinungen und Bedürfnisse ernst nehmen und zu uns selbst stehen, auch wenn wir uns unwohl fühlen oder Fehler machen, können wir wirklich zeigen, wer wir sind. Das bedeutet nicht, dass wir uns automatisch immer durchsetzen oder unsere Bedürfnisse über die anderer stellen, doch unsere Grundhaltung ist uns selbst gegenüber respektvoll und wertschätzend - eben genau so, wie wir es auch von anderen gerne erfahren würden.
Unser längster Wegbegleiter…
… sind wir selbst. Mit keinem Menschen auf dieser Welt werden wir am Ende unseres Lebens so viel Zeit verbracht haben wie mit uns selbst. Was bringt es also, nach Verbindung im Außen zu suchen, wenn die Beziehung zu uns selbst nicht gesund und intakt ist? Es stimmt natürlich, dass unser Selbstwert auch durch Beziehungen heilt, doch das kann nur gelingen, wenn wir die richtigen Beziehungen eingehen - und gerade, wenn wir uns selbst gering schätzen, tendieren wir eher dazu, dafür kein gutes Gespür zu haben, weil wir dieses Muster auch in unseren Beziehungen (unbewusst) suchen. Wir dürfen also, anstatt darauf zu warten, den perfekten Mensch zu finden, zunächst einmal an unserer Selbstakzeptanz und Selbstliebe arbeiten. Wenn diese aufrecht und intakt ist, wird auch der Druck, eine Bindung zu finden, nachlassen, weil mir mit uns selbst im Reinen sind. Und paradoxerweise werden wir genau dann auf so viele tolle Menschen treffen, weil unsere Ausstrahlung anziehend wird, und auch das Thema Bindung erledigt sich dann wie von selbst.
Selbstverantwortung
Es ist nicht unsere “Schuld”, dass wir uns unzulänglich fühlen oder im Außen nach Verbindung suchen müssen, um ein inneres Loch zu füllen, weil wir uns nicht “gut genug” fühlen. Doch diese Suche wird in den meisten Fällen ergebnislos verlaufen oder immer wieder die gleichen, ungesunden Muster wiederholen. Ein niedriger Selbstwert hat immer einen Grund, der in unserer (frühkindlichen) Prägung, unseren Erfahrungen und Überzeugungen über uns selbst verankert ist. Die Einflüsse, die dazu geführt haben, konnten und können wir nicht beeinflussen, doch im Gegensatz zu unserem jüngeren Selbst besitzen wir die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die Glaubenssätze, die unser Erleben heute formen und unsere Weltsicht prägen, haben wir nicht selbst geschrieben - doch wir können sie umschreiben. Es ist nicht leicht, etwas zu hinterfragen, was man sein Leben lang geglaubt hat oder tief im Unbewussten eingegrabene Muster aufzubrechen und “umzuprogrammieren” - doch es ist möglich. Der Prozess mag mühsam, langwierig und zeitweise hoffnungslos erscheinen - doch es lohnt sich auf jeden Fall. Je tiefer unsere Selbstzweifel eingegraben sind, desto länger kann es dauern und desto eher sollten wir diesen Weg vielleicht auch nicht alleine, sondern mit professioneller Unterstützung antreten. Doch alleine das Wissen, durch seine Handlungen und Gedanken im Hier und Jetzt die Möglichkeit zu haben, alte Glaubensmuster zu entkräften, kann schon sehr befreiend sein. Uns selbst anhand handfester Taten zu überzeugen, dass uns limitierende Gedanken und Überzeugungen nicht kontrollieren oder den Rest unseres Lebens bestimmen müssen, gibt uns die Macht und Handlungsfähigkeit zurück, etwas an unserer Situation zu ändern. Denn an unseren Gedanken kann niemand sonst etwas ändern und wir kommen vom Warten ins Tun, vom Zweifeln in die Selbstverantwortung. Und zwar für uns selbst und niemanden sonst.
Jeder lebt sein eigenes Leben
Gerade wenn wir verunsichert sind, was andere Menschen über uns denken werden, wenn wir das tun, was unseren Werten entspricht, stellt sich aber auch die Frage, warum uns das so wichtig ist. Natürlich möchten wir dazugehören, doch nicht alle Menschen denken gleich und jeder hat mit seiner ganz eigenen Geschichte und Art Platz auf dieser Welt. Nur, weil wir es uns selbst recht machen, schreiben wir dadurch ja auch niemand anderem vor, wie er oder sie sich zu verhalten haben. Es wird oft als egoistisch betrachtet, wenn Menschen ihre eigenen Vorstellungen und Träume leben, sich selbst priorisieren und das tun, was ihnen gut tut. Doch in meinen Augen ist diese Art von Egoismus essentiell. Nur, wer mit sich im Reinen ist und auf seine eigenen Bedürfnisse achtet, kann auch offen für Beziehungen und ein produktives und wertvolles Mitglied einer Gesellschaft sein. Natürlich ist es schön und absolut lobenswert, aus Solidarität auch auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen, doch wenn dies aufkosten der eigenen geht, so führt das nur zu einer Verlagerung des Leids auf die eigene Seite. Wie gesagt - kurzfristig und in Maßen ist auch das verkraftbar - doch langfristig bringt es niemandem etwas, weder den Personen, denen wir (immer weniger) helfen (können), als auch uns selbst. Deshalb muss jeder Mensch sich selbst zunächst einmal als Hauptcharakter seines eigenen Lebens betrachten - denn das ist nicht egoistisch, sondern ganz natürlich und etwas ganz anderes, als dies auch von anderen zu erwarten.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Egoismus und Egozentrismus, zwischen gesunder Selbstachtung und Selbstüberhöhung. Erste ist essentiell für gelingende Beziehungen, die keine Abhängigkeiten bewirken und gesunde Bindungen, die unser soziales Bedürfnis stillen. Wenn wir aber mit uns selbst nicht zufrieden sind oder gar der Ansicht, nicht “genug” zu sein und uns deshalb verstellen, können wir nie in solche erfüllenden und bereichernden Gemeinschaften gelangen. Und ganz nebenbei machen wir es uns selbst nur unnötig schwer. Anfangs können wir nichts dafür, dass wir so über uns denken, doch mit zunehmendem Wissen und mehr Selbsterkenntnis kann es uns gelingen, die Verantwortung zu übernehmen und den manchmal steinigen, aber umso lohnenderen Weg zu uns selbst anzutreten - ob alleine oder im Optimalfall mit Unterstützung von (professionellen) Menschen, denen wir vertrauen.
Ich wünsche allen Lesern, die sich schon oder bald auf diesem Weg befinden, viel Kraft und auch all jenen, die manchmal das Ziel aus den Augen verlieren, viel Zuversicht. Es wird sich lohnen, davon bin ich überzeugt! Jakob <3