Ein “fixed mindset” im Umfeld

Im Laufe des Lebens hat man mit vielen Menschen zu tun. Die ersten Kontaktpersonen sind die Familie, allen voran Eltern, manchmal auch Geschwister, mit denen man am meisten Zeit verbringt. Aber bereits in der Krabbelstube beginnt man, Freundschaften zu schließen, was in Volksschule, Gymnasium etc. seine Fortsetzung findet. Natürlich lernt man dabei weitaus mehr Menschen kennen, als man Freundschaften schließt, aber das ist auch ganz normal und okay. Später hat man mit Arbeitskollegen, Vorgesetzten und anderen Bekannten zu tun - kurzum, wir stehen in ständigem Kontakt und Austausch mit unserem Umfeld.

Einige Beziehungen, wie etwa die zu unseren Eltern, sind uns von Geburt an mitgegeben, für andere entscheiden wir uns bewusst und immer wieder, wenn wir Freundschaften pflegen, uns bei fast in Vergessenheit geratenen WeggefährtInnen melden und unseren weit entfernten Cousinen schreiben, mit denen wir bereits viele schöne Stunden verbracht haben. Ich wünsche jedem, dass auch die in jungen Jahren engsten und wichtigsten Beziehungen ein Leben lang wertvoll und stärkend bleiben, denn das kann einen unglaublichen Wert haben. Dennoch ist mir bewusst, dass nicht alle Menschen, zu denen wir ein enges Verhältnis aufbauen, uns immer gut tun werden. Sei es aufgrund generationaler Unterschiede, anderer Weltanschauungen oder einfach, weil wir das Gefühl haben, dass uns der Austausch mit bestimmten Personen mehr Energie raubt, als er uns Freude macht - jeder kennt das Gefühl, eine Beziehung nicht mehr unbedingt in diesem Ausmaß pflegen zu wollen. Das kann bei den eigenen Eltern oder Großeltern, Freunden oder Bekannten der Fall sein, wobei bei letzteren beiden es meist nicht so schwer ist, den Kontakt einzuschränken bzw. “einschlafen” zu lassen. Bei der Familie ist dies jedoch etwas komplizierter. Wer fühlt sich seinen Eltern und Verwandten gegenüber nicht irgendwie verantwortlich, als würde man es ihnen schulden, in regelmäßigem Kontakt zu bleiben und sich zu melden.

Auch deshalb ist es bei mir mit Schuldgefühlen verbunden, wenn ich merke, dass ich diese Zeit lieber anders investieren möchte. Ohne jemanden für seine Weltanschauung in irgendeiner Art und Weise verurteilen zu wollen, muss ich sagen, dass ich manchmal etwas das Gefühl habe, in den Fängen vergangener Beziehungen gefangen zu sein. Das liegt nicht daran, dass ich diese Personen nicht nach wie vor gern habe oder auch bereit bin, Kompromisse einzugehen, ganz im Gegenteil. Nur fällt mir auf, dass ich, je intensiver ich gewisse Kontakte pflege, diese auf mich abfärben und ich Dinge übernehme, die ich eigentlich nicht übernehmen will. Manche Glaubenssätze, die uns zurückhalten, bekommen wir schon früh mit auf den Weg gegeben, sozusagen “anerzogen”. Nochmals möchte ich betonen, dass dies keine bösen Absichten sind, und doch bedarf es viel innerer Arbeit und Reflexionsvermögen, diese Glaubenssätze aufzulösen und ein offenes, tolerantes und lernfähiges “growth mindset” zu etablieren, welches besonders ältere Menschen leider nur selten leben. Ich bin mir sicher, dass sich viele Leser an derartige Situationen erinnern, doch ich möchte - trotz meines eigenen schlechten Gewissens - klarstellen, dass es okay ist, sich davon abzugrenzen.

Vielleicht fühlt es sich zu Beginn wie ein Verrat an der eigenen Familie an. Man hat seinen Eltern oder Verwandten meist viel zu verdanken, doch das bedeutet nicht, dass man in ihrer Schuld steht. Jeder Mensch lebt - ab einem gewissen Punkt - sein eigenes Leben und ist selbst dafür verantwortlich, was er daraus macht, welche Werte er annimmt und welche Energie er zulässt oder nicht. Und manchmal kann es passieren, dass enge Beziehungen einem nicht mehr gut tun. Aber das ist okay. Menschen verändern sich, Prioritäten verschieben sich und jeder Mensch wird gleich schnell etwas älter. Die Perspektiven auf die Welt sind so vielfältig wie die Menschen selbst und es wäre auch schade, wenn man mit 70 Jahren noch die genau gleiche Einstellung gegenüber allen Dingen hätte wie mit 20. Was “richtig” und was “falsch” ist, muss jeder Mensch selbst für sich herausfinden, und während ein gewisses Vertrauen älteren und weisen Menschen gegenüber oft hilfreich sein kann, bedeutet es nicht, dass man selbst immer zu den gleichen Schlüssen kommen wird wie diese. Wenn diese Menschen sagen, sie wollen einen davor bewahren, die gleichen “Fehler” zu machen wie sie, dann kommt das zwar mit guten Absichten - doch vielleicht würde sich ein solcher “Fehler” für uns als die beste Entscheidung unseres Lebens herausstellen?

Ich selbst kämpfe mit der Ambivalenz, es meinem Umfeld recht machen zu wollen und meinen eigenen Weg zu gehen sehr, weil ich immer mehr merke, dass sich die individuellen Vorstellungen von einem guten Leben doch erheblich voneinander unterscheiden. Es ist mir aber auch klar geworden, dass auch meine Eltern und Verwandten, also auch die “ältere” Generation, bereits mit den gleichen Zweifeln konfrontiert war und ist wie die “Jugend” von heute. Die Meinung anderer Menschen, wie man dasteht und was diese von einem denken war auch schon vor dem Zeitalter der sozialen Medien etwas, das in Büros, an verschiedenen Arbeitsplätzen und in Treffen mit Freunden Thema war. Heute werden diese Zweifel und Vergleiche eben online geschürt, während früher hinter dem Rücken der Kollegen miteinander getuschelt wurde. Nur, weil die Elterngeneration also ohne das Internet aufgewachsen ist, bedeutet nicht, dass alle Probleme, die damit auch einhergehen, gänzlich neu sind. Diese Erkenntnis hilft mir, mich besser von gewissen Glaubenssätzen, die ich unkritisch übernommen hatte, zu lösen. Es war früher nicht alles besser, im Gegenteil - ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass ein “fixer mindset”, welches neue Denk- und Lebensweisen nicht akzeptieren und das Infrage stellen mancher veralteter gesellschaftlicher Normen nicht aushalten kann - in der älteren Generation sehr verbreitet ist.

Kurz und gut soll dieser Blogeintrag einfach ermutigen, sich von Beziehungen, die einem nicht gut tun oder davon abhalten, sich weiterzuentwickeln, zu lösen. Natürlich muss man nicht alle Kontakte abbrechen, die nicht genau das gleiche “Mindset” vertreten wie man selbst - schließlich wäre ja genau das ziemlich engstirnig und genauso intolerant - doch wir sind es niemandem schuldig, auf ewig gute und enge Beziehungen zu pflegen, nicht einmal den Menschen, denen wir vielleicht am meisten zu verdanken haben. Zu verstehen, dass ihre eigenen Erfahrungen maßgeblich dazu beigetragen haben, wer sie heute sind und dass sie selbst durch ihre eigenen Kontakte geformt und geprägt wurden, hilft mir, zu verstehen, warum sie manche Verhaltens- und Denkweisen nicht ablegen können oder wollen, selbst wenn sie diese möglicherweise einschränken. Doch das bedeutet nicht, dass wir selbst das aus Respekt oder Rücksichtnahme auch tun müssen. Wir leben unser eigenes Leben und können selbst darüber entscheiden, mit welcher Energie und welcher Einstellung wir dieses leben möchten. Und möglicherweise enttäuschen wir damit “andere” gar nicht, sondern inspirieren sie dazu, ebenfalls einen Blick über den Tellerrand hinaus zu wagen.

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