Mental Health Stigma
In den letzten Jahren seit der Corona-Pandemie hat sich in Sachen Sichtbarkeit psychischer Krankheiten viel getan. Während vor den vielen Lockdowns zwar auch schon ab und zu die Rede davon war oder sich manche öffentliche Persönlichkeiten zu ihren eigenen mentalen Problemen äußerten, so erlebte dieser Trend während und nach der Pandemie eine Fortsetzung. Bis heute hält die Entwicklung an und auch in sozialen Medien wird jährlich in der “Mental Health Awareness Week” darauf aufmerksam gemacht, dass Gesundheit nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Seele mit einschließt. Und dennoch bin ich der Meinung, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht am Ziel ist. Es ist zwar zu begrüßen, dass die Sichtbarkeit psychischer Krankheiten zunimmt, doch die Art und Weise, wie mit diesen umgegangen wird, hat sich dennoch in meinen Augen noch kaum verändert. Warum das so ist und was wir anders machen können, möchte ich in diesem Artikel herausarbeiten.
Psychische Probleme sind nicht psychische Erkrankungen
Die Zeit der Pandemie hat weltweit wohl fast allen Menschen psychisch zugesetzt. Isolation, soziale Einschränkungen und eine globale Krisensituation, die für kollektive Verunsicherung sorgte haben zweifelsfrei dazu geführt, dass mehr Menschen mit mentalen Herausforderungen bzw. Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Waren wir alle während dieser Zeit belastet? Zweifelsfrei. Doch waren alle von uns deswegen “krank”? Nein - sogar im Gegenteil. Wahre psychische Gesundheit zeichnet sich auch durch Belastbarkeit aus, die Rede ist dann oft von der vielzitierten Resilienz. Doch resilient zu sein bedeutet nicht, nicht auch mal zu zweifeln, Angst zu haben oder zu grübeln. Auch sehr widerstandsfähige Menschen kennen diese Gefühle und das ist auch ganz normal so. Während der Pandemie bekam man allerdings den Eindruck, dass plötzlich alle Menschen glaubten, nachvollziehen zu können, wie sich Angststörungen oder Depressionen anfühlen. Natürlich stellte die Situation alle vor eine Herausforderung, doch nur deswegen zu glauben, eine schwere Depression aus eigener Erfahrung nachvollziehen zu können, ist schlichtweg falsch. Und genau darin lag und liegt auch ein großes Problem - denn während die allermeisten durch einfache Tipps wie etwas Bewegung, frische Luft und Sonne auf der Haut gut durch die Krise kamen und ihre Ängste in Schach halten konnten, so war das vielen mit einer ernsthaften psychischen Erkrankung eben nicht möglich. Die Sichtbarkeit und das (oberflächliche) Verständnis wurde zwar mehr, doch nur um dann wieder darin umzuschlagen, dass jeder glaubte, mit seinen eigenen Tipps und Tricks Depressionen heilen könne. Und genau das ist eben das Problem an der weit verbreiteten Vorstellung von psychischen Erkrankungen - die meisten Menschen, die nicht selbst einmal betroffen waren, können nämlich nicht ein mal im Ansatz nachvollziehen, was eine schwere depressive Episode bedeutet. Einige schwere Stunden während der Pandemie überstanden zu haben, macht auch noch keine persönliche Erfahrung mit einer echten psychischen Krankheit, auch wenn man das durch die Hashtags unter den Posts aus dieser Zeit vermuten könnte.
Und genau dieses mangelhafte Verständnis und die zwar gut gemeinten, aber schlecht getroffenen Ratschläge, die wirklich Betroffene heute bekommen, zeigen ganz eindeutig, dass vielleicht die Sichtbarkeit zugenommen hat, das Stigma gegenüber psychischen Erkrankungen aber nach wie vor Bestand hat.
Psychische Krankheiten sind keine Charakterschwächen
Während der Pandemie haben viele Menschen mit Symptomen von Depressionen oder Angststörungen zu kämpfen gehabt und sich deshalb aus Eigeninteresse darüber informiert, wie sie mit diesen umgehen können und Bewältigungsstrategien gesucht. Vielen Menschen haben diese Tipps geholfen, was sehr schön ist, allerdings nicht automatisch bedeutet, dass es für andere Menschen auch funktionieren muss. Im Gegensatz zu rein somatischen Erkrankungen, bei denen eine Operation oder ein Medikament standardmäßig auf alle Patienten angewandt werden kann, so ist die Therapie einer psychischen Erkrankung ungleich komplexer und individueller. Außerdem ist nicht jede depressive Verstimmung gleichzusetzen mit einer wirklich schweren Depression, zumal letztere in den Diagnosemanualen schon nach 2 Wochen mit bestimmten Symptomen “offiziell” diagnostiziert werden kann. Die Realität zeigt aber, dass Menschen auch nach 3 Wochen wieder eine (spontane) Besserung erfahren können - was kaum mit einer jahrelangen Depression zu vergleichen ist, die weder durch medikamentöse, noch Gesprächstherapie in den Griff zu bekommen scheint. Die Diagnose bleibt jedoch die gleiche, und damit auch der Glaube, dass die Dinge, die einem durch drei schwere Wochen während der Pandemie geholfen haben, sicher auch jedem jahrelang Kranken helfen müssen. Dies erzeugt einen großen Druck auf Betroffene, die oft nicht einmal in der Lage sind, die Tipps in die Praxis umzusetzen, ohne dabei ständig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das erzeugt wieder Scham und Schuldgefühle, die die Depression nur verstärken.
Hinzu kommt, dass das oberflächliche “Verständnis” für psychische Erkrankungen dann plötzlich sehr limitiert ist. “Man muss es eben auch selber wollen” oder “manchmal muss man eben durchbeißen” sind dann gängige Sätze, die von Kurzzeitbetroffenen vielleicht verwendet werden, die glauben, aufgrund ihrer eigenen Erfahrung während der Pandemie die ganze Komplexität von psychischen Erkrankungen durchschaut zu haben und die Gründe für ausbleibende Besserung, wenn ihre “Tipps” nicht den gewünschten Effekt erzielen, doch wieder in der Charakterschwäche der Langzeitbetroffenen suchen - wenn auch vielleicht unabsichtlich oder unbewusst.
Sobald es unbequem wird, schauen viele Menschen weg
Ein weiteres Phänomen, das leider vorkommt, ist die Begrenzung des Verständnisses auf bestimmte Personengruppen. Erneut ist die Pandemie ein gutes Beispiel: Besonders damals war oft zu hören, dass psychische Erkrankungen “jeden treffen” können und dass dies keine Schwäche oder ein Grund zum Schämen wäre. Das ist natürlich richtig und eine begrüßenswerte Einstellung, doch sie impliziert auch einen sehr negativen Glaubenssatz: Denn was wäre, wenn es nicht “jeden” treffen könnte? Wer wäre betroffen, wenn bestimmte Gruppen dagegen immun wären? Wären es dann die “Schwachen”, die, die nichts aus ihrem Leben gemacht haben? Die Obdachlosen und Drogenabhängigen? Für erfolgreiche Sportler, Geschäftsleute oder auch “normale” Bürger der Mittelschicht, mit denen man sich identifizieren kann, ist das Verständnis inzwischen wirklich größer geworden. Man legt ihnen nahe, sich eine Auszeit zu machen, eine Therapie zu besuchen (und dann schnellstmöglich wieder zu “funktionieren” - aber das ist ein anderes Thema). Das ist sehr schön und positiv, aber was ist mit den vielen Menschen, die eben nicht lange “funktionierten”, bis sie es nicht mehr taten? Die nie in ihrem Leben wirklich Fuß fassen konnten, weil sie schon nach der Geburt schwer traumatisiert oder misshandelt wurden und deshalb in eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit schlitterten, um ihr Leid irgendwie zu ertragen? Die Obdachlosen und Bettler, denen wir jeden Tag auf der Straße begegnen, von denen ebenfalls ein sehr großer Anteil an psychischen Problemen leidet, die zum Teil auch zu deren wirtschaftlicher Situation überhaupt erst geführt haben? Auf genau diese Menschen, die von uns allen möglicherweise am meisten Leid erdulden müssen, weil sie auch auf ganz existenzieller und nicht “nur” psychischer Ebene stark belastet sind, wird im öffentlichen Diskurs oft vergessen. Es gibt Kampagnen, die sich für leitbare Psychotherapie aussprechen, aber keine (mir bekannte), die eine solche für wirklich arme Menschen oder Obdachlose fordern würde. Wir zeigen Verständnis und solidarisieren uns mit “erfolgreichen” Menschen, die eben einmal “eine Pause brauchen” oder “sich neu orientieren” müssen, schauen aber weg, wenn es um jene geht, die nie wirklich Orientierung gefunden haben, weil für sie vermeintlich andere Regeln herrschen, sie “selbst schuld” sind.
Natürlich ist das oft nicht böswillig oder absichtlich und es liegt auch in der Natur des Menschen, sich vor allem mit Personen in ähnlicher Situation zu vergleichen oder zu solidarisieren, einfach weil wir uns besser mit diesen auch identifizieren können. Und dennoch möchte ich darauf aufmerksam machen, dass unser zunehmendes Verständnis für psychische Erkrankungen nicht auf bestimmte Personengruppen begrenzt bleiben sollte, sondern für alle gleichermaßen sich auswirken muss - auch und gerade für die am meisten Gebeutelten unserer Gesellschaft.
Fazit
Die Pandemie hat das Bewusstsein vieler Menschen für psychische Gesundheit geschärft und die Stigmatisierung seelischer Erkrankungen etwas zurückgedrängt. Über diese Themen zu reden ist heute glücklicherweise kein Tabu-Thema mehr und wird in immer mehr Gesellschaftsschichten ernster genommen, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Doch dieser Trend muss fortgesetzt werden und die Aufklärung weiter stattfinden, da sich sonst gefährliche Halbwahrheiten mit den alten Glaubenssätzen vermischen und Betroffene möglicherweise noch stärker unter Druck setzen. Es bringt nichts, wenn man mehr über psychische Probleme redet, nur um dann wieder auf Willenskraft und Disziplin als Lösung der Probleme zu kommen, nur weil das in einer eigenen, zeitlich limitierten Phase vielleicht (auch) geholfen hat. Weiters muss sich das Verständnis auf ALLE Menschen beziehen und nicht nur jene, bei denen wir “verstehen”, wie und warum sie sich ausgebrannt fühlen. Auch die Menschen, die am unteren Ende der “Gesellschaftshierarchie” stehen, verdienen das gleiche Maß an Verständnis, Mitgefühl und Hilfe - und wir sind als Solidargemeinschaft dazu verpflichtet, ihnen diese Dinge entgegenzubringen und nicht wegzuschauen, wenn es ungemütlich wird und “mental health” kein Wohlfühlthema mehr bleibt, sondern ein existenzbedrohendes Problem wird.