Wir sind (nur) für uns selbst verantwortlich
Ich möchte heute über ein Thema schreiben, dass mich selbst sehr beschäftigt und mit dem ich so meine Probleme habe, obwohl ich die “Lösung” eigentlich kenne. Es soll darum gehen, Verantwortung zu übernehmen, aber auch abzugeben und Grenzen zu ziehen, zwischen sich und seinem Umfeld. Oft ist das nämlich nicht so leicht, wie es sich sagt. Es gibt Beziehungen, sei es zu engen Freunden oder Familienmitgliedern, in denen wir für andere da sein wollen und sollen. Es gehört dazu, sich gegenseitig in schwierigen Situationen oder Lebenslagen zu unterstützen und beizustehen. Wenn mir nahestehende Personen krank sind, möchte ich helfen, aber auch wenn es ihnen gut geht, möchte ich, dass sie glücklich sind, und leiste dazu auch sehr gerne einen Beitrag. Es gibt aber auch einen Punkt, an dem ein solches Verhalten nicht mehr nur gut und löblich ist. Zwar helfen wir an der Oberfläche anderen Menschen und tun “Gutes”, aber auf der Kehrseite der Medaille kommen wir selbst dabei zu kurz - sei es im zeitlichen oder emotionalen Sinn. Natürlich gibt es - besonders wenn es anderen Personen nicht gut geht - Umstände, unter denen ein Ungleichgewicht an “Geben” und “Nehmen” bestehen kann. Auch in Eltern-Kind-Beziehungen ist das natürlich bis zu einem gewissen Alter oft der Fall, weil die Eltern ganz natürlicherweise für ihre Kinder sorgen.
Aber unter “normalen” Umständen - will heißen, dass wir über eine Beziehung zwischen zwei erwachsenen, gesunden Menschen sprechen - hält sich “Geben” und “Nehmen” die Waage und beide Seiten profitieren von dem gegenseitigen Austausch, der gegenseitigen Unterstützung und beide Parteien genießen die Zeit miteinander gleichermaßen - natürlich nicht jedes Mal im gleichen Ausmaß, aber langfristig ausgeglichen viel. In der Praxis ist das aber in vielen Beziehungen nicht der Fall, was auch mir immer wieder bewusst wird. Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben, dass ich zu kurz komme, weil es für mich etwas Mitleidserregendes und Klagendes an sich hat - doch so möchte ich es nicht verstanden wissen, denn ich bin selbst dafür verantwortlich. Ich denke, viele von uns kennen Beziehungen, in denen wir den Eindruck haben, unterzugehen und nicht gesehen zu werden. Sei es, weil unser Gegenüber andauernd selbst redet und uns kaum zu Wort kommen lässt oder weil es uns nie nach unseren Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen fragt - und wenn, dann nur, um uns dabei sofort wieder zu unterbrechen. Solche Interaktionen können ganz schön anstrengend und energieraubend sein, und doch begebe ich mich immer wieder wissentlich in Situationen, in denen ich diesen Gesprächen (oder eher Monologen) hilflos ausgeliefert bin. Doch bin ich wirklich so hilflos? Nein, natürlich nicht. Jeder Mensch kann und muss selbst Verantwortung dafür übernehmen, wie viel Zeit er mit welchen Menschen verbringt, wie viel Kontakt ihm gut tut und welche Beziehungen ihn eher auslaugen, als ihm Freude und ein Zusammengehörigkeitsgefühl bereiten. Doch diese Grenze zu ziehen und einen Raum für sich zu schaffen, ist nicht so leicht.
Dabei treffen doch zwei menschliche Grundbedürfnisse - jenes nach Autonomie, Selbstbestimmung und Abgrenzung und jenes nach Nächstenliebe, Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft - aufeinander. Ein Übermaß von beidem kann dafür sorgen, dass wir uns ausgelaugt und leer fühlen. Aber besonders in punkto Gemeinschaft nehmen wir auch große Lasten auf uns, um unsere Beziehungen aufrecht zu erhalten: wir hören zu, trösten, helfen und unterstützen, wo wir können - und das ist gut und sehr schön so. Aber es kommt ein Punkt, an dem wir uns auch fragen müssen, ob all unsere Bemühungen auch wertgeschätzt oder erwidert werden. Es sollte keine Freundschaft zu einer Bilanzierung guter Taten werden und das möchte ich damit auch überhaupt nicht sagen. Aber ich habe in einigen Beziehungen schon die Erfahrung gemacht, dass ich sehr viel meiner Energie dazu verwendet habe, Probleme zu lösen und Menschen zu unterstützen, ohne im Gegenzug etwas dafür zu bekommen. Und dieser Ansatz ist ebenfalls nicht zielführend. Am Ende ist jeder Mensch selbst für sich verantwortlich und man kann von niemandem außer sich selbst erwarten, dass er/sie etwas unternehmen wird, um die eigenen Probleme zu lösen. Umgekehrt ist es aber ebenfalls nicht unsere Verantwortung, dies für andere zu tun. Es ist wunderschön, wenn man sich gegenseitig unterstützen und anfeuern kann - allerdings nicht, wenn das zum Standard” wird und wir voneinander nicht anderes mehr erwarten. In dem Moment, in dem wir zu sehr in den Schwierigkeiten anderer Menschen verwickelt sind, verlieren wir ein Gefühl für unser eigenes Wohlbefinden. Ich selbst bin oft sehr damit beschäftigt, es möglichst allen recht zu machen und die Interessen aller zu jonglieren und dafür zu sorgen, dass es allen gut geht - doch das ist die Lebensaufgabe eines jeden Selbst. Besinnen wir uns nicht ehrlich auf unser eigenes Wohlbefinden und unsere eigenen Gefühle, kann das sehr schnell zu Überforderung und Burnout führen.
Wie gesagt möchte ich keineswegs den Eindruck erwecken, dass ich eine Gesellschaft möchte, in der nur Narzissten und Egoisten umherrennen, die nur ihr eigenes Wohl im Kopf haben. Doch ein gewisses Maß an Egoismus ist in meinen Augen viel gesünder, als sich darauf zu verlassen, dass im Ernstfall andere für uns sorgen. Es steht in unserer eigenen Macht und Verantwortung, unser Leben so zu gestalten, wie wir es gerne verbringen würden, und dazu gehört auch “Nein” zu sagen. In dem Moment, in dem wir eine klare Grenze ziehen, fällt es uns leichter, gut für uns zu sorgen, unsere Bedürfnisse und Emotionen wahrzunehmen. Dazu gehört aber auch, sich von den Gefühlen, Neigungen und Launen anderer Menschen zu distanzieren. Wir schulden niemandem auf dieser Welt ungeteilte Aufmerksamkeit und “Gehorsam” und müssen in schwierigen Situationen niemandem zu Hilfe eilen, wenn wir selbst uns dazu nicht imstande fühlen. Umgekehrt fällt unser eigenes Wohlbefinden allerdings in unseren “Zuständigkeitsbereich”. Und falls wir, um dieses zu steigern, Zeit für uns brauchen oder nicht so viel für andere da sein können, dann müssen wir auch das tun.
Schließlich haben auch die Menschen, die gerne von uns unterstützt werden würden, nichts davon, wenn unser Zuhören passiv, erschöpft und “falsch” ist. Wenn wir wirklich für andere da sein wollen, dann können wir das nur, wenn wir mit uns selbst im Reinen und im Vollbesitz unserer Kräfte sind. Während einer Hungersnot kann ein selbst schwacher und kaum über die Runden kommender Jäger auch nicht seine ganze Beute an andere weitergeben, wenn er dabei selbst verhungert, sonst wird seine “Hilfe” nur von sehr kurzer Dauer gewesen sein.
Jeder Mensch lebt sein eigenes Leben. Natürlich kann es eine sehr erfüllende Lebensaufgabe sein, anderen Menschen zu helfen und sie zu unterstützen, doch trotzdem geht es in unserem Leben in erster Linie um uns selbst. Niemand sonst kann unsere Gefühle spüren, unsere Bedürfnisse wahrnehmen oder unsere Leidenschaften so erleben, wie wir es tun - das müssen wir schon selbst tun. Und vor allem DÜRFEN wir das auch. Es ist nicht egoistisch, sein eigenes Leben sich so zu richten, wie man es selbst für richtig hält. Jeder Mensch, jedes Leben ist unglaublich wertvoll, und zwar ohne Ausnahme. Jeder Mensch ist wichtig und vor allem muss sich auch jeder Mensch selbst wichtig nehmen. Das ist nicht selbstbezogen, sondern das Natürlichste auf der Welt. Und dazu kann auch gehören, dass wir uns als Erwachsene von anderen Menschen, deren Kontakt uns nicht gut tut, abgrenzen. Es ist nicht leicht und wird sicher auch nicht immer gut aufgenommen, denn das liegt in der Natur der Sache. Niemand wird gerne zurückgewiesen, auch wir nicht. Aber wir müssen ebenfalls nicht mit jedem Menschen auf dieser Welt gut auskommen oder sympathisieren, auch wenn dies umgekehrt vielleicht der Fall ist. Das macht uns nicht zu schlechten Menschen, sondern ist vollkommen normal. Natürlich gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie wir unseren “Unwillen” zum Ausdruck bringen können und wir müssen es ja nicht verletzend oder abwertend gegenüber der anderen Person tun. Doch WIR. DÜRFEN. UNS. ABGRENZEN. Und müssen das sogar - es liegt in unserer Verantwortung.
Warum ist mir dieses Thema so wichtig? Weil ich lange geglaubt habe, dass ich falsch wäre, wenn ich mit jemandem nicht gut auskäme oder mich in einer Freundschaft oder anderen Beziehung unwohl gefühlt habe. Ich habe versucht, den Grund bei mir zu finden und zu erkennen, warum ich in Unterhaltungen ungeduldig wurde oder mich nur schwer zusammenreißen konnte, wenn ich in der Gegenwart bestimmter Personen wochenlang meinen Urlaub verbrachte. Ich dachte, ich müsste mich anpassen, an meinen inneren Impulsen arbeiten und mir verbieten, zu fühlen, wie ich es tat. Bis ich eines Tages auf die Idee kam, einfach Zeit mit jemand anderem zu verbringen und es mir unglaublich gut tat. Nur wurden dann jene Personen, von denen ich mich - ohne jemals ein böses Wort gesagt zu haben - “abgewandt” hatte, wütend und eifersüchtig und ich fühlte mich persönlich schuldig an deren negativer Gefühlslage. Ich war noch sehr jung und verstand nicht, dass ich nicht verpflichtet war, mit diesen Personen Zeit zu verbringen, wenn ich nicht wollte, doch unter einem gewissen Alter hat man oft kaum eine Wahl, also passte ich mich an und arrangierte mich über Jahre mit der Situation. Schließlich war ich aber erwachsen geworden und in immer neuen, mir nicht gut tuenden, aber eben bekannten Beziehungsmustern gefangen, wie ein kleines, hilfloses Kind.
Mit einem Unterschied: Ich durfte erkennen, dass ich selbst die Zügel in der Hand hatte und nicht meinem Schicksal ausgeliefert war. Und es machte mich auch zu keinem schlechten Menschen, wenn ich die Initiative ergriff und diese Umstände änderte - im Gegenteil, auch wenn ich mich noch lange schuldig dafür fühlte. Doch dir - lieber Leser oder liebe Leserin - sei gesagt und ans Herz gelegt: Niemand sonst bestimmt darüber, wie du dein Leben zu leben hast und auch nicht, mit wem. Also ergreif die Initiative und gestalte es nach deinen Vorstellungen, auch wenn dazu gehört, manche Beziehungen eher nicht mehr zu forcieren. Das ist nicht schwach, das ist nicht egoistisch und nicht komisch - das ist zutiefst menschlich, normal und sehr stark, denn damit zeigst du jedem Menschen, wer in deinem Leben die wichtigste Person ist - nämlich du selbst.