Generationenkonflikte

Manchmal spüre ich in Anwesenheit anderer Menschen eine gewisse Schwere, wie ein hartnäckiges schlechtes Gewissen, das ich nicht loswerde. In meinem Kopf sagt mir eine Stimme, ich sei nicht gut genug, zu faul, zu egoistisch und würde alle enttäuschen. Das hat sicher auch mit meiner ganz persönlichen Vergangenheit zu tun, ein wenig glaube ich aber auch, dass es in unserer Gesellschaft verankert ist. Die ältere(n) Generation(en), die heute die Erde bevölkern, sind in Verhältnissen aufgewachsen, die - aus ihrer Perspektive zumindest - um einiges schwerer zu ertragen waren als heute. In der Nachkriegszeit mussten viele Familien sparen und es reichte gerade einmal für das Nötigste, während heute Fernseher, Smartphone etc. zum Alltag gehören und sich Lebensmittel leisten zu können keine Besonderheit mehr ist. Mehr noch, es scheint ein Überangebot und auch in manchen Bereichen einen Überfluss zu geben. Die meisten Erwachsenen haben aber noch Tugenden verinnerlicht, die sich rund um Verzicht, Demut und Enthaltsamkeit drehen. Es ist kein Wunder, dass sie heute, umgeben von Luxusgütern aller Art, einen gewissen Neid verspüren. Das muss nicht bewusst sein, aber unbewusst tendieren wir Menschen immer dazu, uns zu vergleichen und zu überprüfen, wie wir selbst gegen die Konkurrenz “abschneiden”.

Nicht selten kommt es deswegen zu Unverständnis seitens der Elterngeneration, wenn die jüngere über ihre individuellen, neuen Probleme klagt, die sich heute aus den neuen Lebensbedingungen ergeben. Aus der Sicht der Erwachsenen mögen die “Probleme”, mit denen sich die “Jugend von heute” herumschlagen muss, vernachlässigbar klein erscheinen, bedrohen sie doch kaum ihre Existenz. Im Vergleich zu ihnen selbst, die noch mit Verzicht und “echten” Sorgen zu kämpfen hatten, muss es die heutige Generation doch leicht haben und soll sich nicht über “work-life-balance” und andere Dinge beschweren, die doch nur Luxusprobleme darstellen, oder etwa nicht? Sie mussten zum Teil noch hungrig ins Bett gehen, hatten kaum Möglichkeiten, sich selbst zu unterhalten, außer mit den Dingen, die sie in der Natur fanden. Wie schwer soll es da eine Generation haben, in der solch ein Überangebot an Essen besteht, dass die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig ist und für Unterhaltung immer und überall gesorgt zu sein scheint?

Diese Gedanken sind für mich durchaus nachvollziehbar und ich kann verstehen, wie einen die eigene Vergangenheit geprägt haben muss, dass man so denkt - besonders, wenn man aus einer nicht so privilegierten Familie stammt. Allerdings ist es - natürlich nicht absichtlich - aus meiner Sicht zu kurz gedacht. Ja, die allgemeinen Lebensbedingungen sind heute besser und zum Glück müssen sich weniger Menschen wirklich Sorgen machen, ob sie am nächsten Tag etwas zu essen bekommen werden. Ja, was früher Luxusgüter waren (Fernseher, Magazine etc.) ist heute nichts Besonderes mehr, wo fast alle Kinder bereits ein Smartphone besitzen. Aber haben Menschen heute deswegen weniger große Sorgen? Und sind diese Sorgen “objektiv” als weniger schlimm zu bewerten? Ich denke, dass das nicht der Fall ist, und zwar aus mehreren Gründen.

Das eine ist die kollektive Stimmungslage - in der Gemeinde, im Land, auf der Welt. In der Nachkriegszeit herrschte eine gewisse Aufbruchsstimmung, und auch wenn viele Länder ökonomisch vielleicht nicht so gut dastanden, so war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft doch groß, der man mit jedem Tag auch tatsächlich etwas näher kam. Es kam ein Wirtschaftsaufschwung und jeder konnte die Erfahrung machen, sich von Tag zu Tag mehr leisten zu können und weniger Sorgen zu haben. Auch die Menschen hielten - unabhängig von politischer Gesinnung - zusammen und halfen sich gegenseitig, weil viele ja von Null begangen. So vergönnte man es auch anderen, wenn diese Erfolg hatten und ich glaube, dass auch der Druck auf den Einzelnen, es zu etwas bringen zu “müssen”, weniger groß war, da nach einer so zerstörerischen Zeit jeder Wohlstandsgewinn schon ein Bonus war und kein Grund, unzufrieden zu sein. Vergleicht man diese Stimmungslage mit heute, so wird schnell klar, warum ich glaube, dass es heute nicht unbedingt “leichter” ist. Zwar ist der Wohlstand weiter angewachsen, doch die Perspektive ist nicht, dass es uns in Zukunft besser, sondern eher schlechter gehen wird. Ungewissheit und Verunsicherung, nicht zuletzt verursacht durch die globale Berichterstattung, die uns von jeder Krise weltweit unterrichtet, sind die dominierenden Gefühlslagen in der Gesellschaft. Statt sich zu helfen und zu unterstützen, stehen die Menschen einander feindselig gegenüber, politische Extreme bekommen mehr Zulauf und viele Lager werten sich eher wechselseitig ab, als das Gemeinsame zu suchen. Die vielen Krisen ökonomischer, humanitärer und umwelttechnischer Natur sind jeden Tag Thema in zahllosen Berichterstattungen, denen man sich nicht entziehen kann. Und jene “Luxusgüter”, die vor 70 Jahren noch als Privileg angesehen wurden, sind heute eben das nicht mehr, sondern tragen nur zur kollektiven Verunsicherung bei.

Auch das Überangebot an Unterhaltungsmöglichkeiten und Nahrung ist nicht automatisch ein Segen. Natürlich ist es nicht angenehm, hungrig ins Bett gehen zu müssen, doch auch nach dem Krieg sind in Europa nur wenige Menschen wirklich einen Hungertod gestorben. Ohne dieses Leid Kleinreden zu wollen, so glaube ich, dass auch die heutige Gesundheitslage nicht unbedingt besser ist. Übergewicht und seine Folgeerkrankungen tötet jedes Jahr ebenfalls Millionen von Menschen weltweit und auch andere Erkrankungen, wie etwa psychische Störungen haben eklatant zugenommen. Wir müssen zwar weniger an Hunger und Langeweile leiden, aber geht es uns dadurch wirklich automatisch besser? Oder bedarf es für ein wirklich glückliches Leben nicht auch mehr als Nahrung und Unterhaltung? Wie gesagt mag die ältere Generation manchmal vielleicht wenig Verständnis für heutige “Probleme” haben. Aber deswegen sind diese nicht weniger valide. Ja, es stimmt, dass früher sich kaum jemand Sorgen über ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Freizeit gemacht hat oder gar darunter litt. Aber früher war “Arbeit” auch leichter zu definieren und endete in dem Moment, in dem man das Büro verließ, weil es nicht die Möglichkeit gab, im Home-Office noch Dinge zu erledigen. Selbstständige hatten immer schon große Verantwortung und deswegen auch großen Stress, doch die Möglichkeiten, Karriere zu machen, waren begrenzt und überschaubar. So ist zwar das Angebot kleiner, aber die Entscheidung fällt bedeutend leichter und die Konkurrenz hält sich in Grenzen, weil nicht jede Jobausschreibung oder Ausbildung für jeden Menschen nur einige Mausklicks entfernt ist. Man hört auch oft den Vorwurf, dass die neue Generation “faul” oder nicht mehr so leistungsbereit sei wie dies vor 70, 80 Jahren noch der Fall war. Aber ist das wirklich so oder musste man sich früher nicht einfach weniger dafür rechtfertigen, wenn man mal eine Pause machte? War es früher nicht einfach weniger sichtbar, wenn jemand in der Freizeit entspannte, während es heute in den sozialen Medien und durch die pausenlose Erreichbarkeit jeder mitbekommt, wenn man in Urlaub ist oder einfach einmal eine Kaffeepause macht?

In der Theorie mag es stimmen, dass es viele Dinge gibt, die uns heute das Leben “erleichtern” - angefangen von Autos, Liften und Handys bis hin zu allen möglichen Online-Diensten, die man für diverse Dinge in Anspruch nehmen kann. Doch auf der Kehrseite bringen genau diese “Erleichterungen” auch nicht minder große Probleme mit sich und der Effekt, dass man sich weniger Gedanken über etwas machen muss, hat dafür negative Konsequenzen in einem anderen Bereich. Nur ein anschauliches Beispiel: Ja, der Arbeitsweg war vielleicht früher beschwerlicher und nicht so nahtlos und vermeintlich entspannt, wie er heute möglich ist. Doch dafür haben die Menschen heute signifikant weniger “eingeplante” Bewegung und dadurch enorme gesundheitliche Probleme. Hinzu kommt, dass die wenigsten wirklich “entspannt” sind, wenn es um den Arbeitsweg geht, im Gegenteil - ein bisschen mehr Distanz und Zeit zwischen Arbeit und Freizeit kann ja auch gut tun, um sich auf das eine oder das andere einzustellen.

Zusammenfassend möchte ich festhalten: Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen zu meistern. Diese verschiedenen Arten von “hart” miteinander zu vergleichen, bringt aber niemandem etwas. Letzten Endes kann man nie wissen, wie man selbst sich anstelle der anderen Person angestellt hätte, ob man “erfolgreicher” gewesen wäre oder nicht. Viele Möglichkeiten, die Jugendlichen heute offen stehen, hatte man von einigen Jahrzehnten einfach noch nicht. Dafür musste man sich auch nicht so sehr damit auseinandersetzen, was man wirklich wollte, weil die Möglichkeiten einer Berufslaufbahn eben begrenzt waren. Darüber hinaus war es “leichter”, subjektiv etwas zu erreichen, weil man nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten hatte wie heutzutage auf den Sozialen Medien, in denen nur die erfolgreichsten, schönsten und auch extremsten Menschen die meiste Aufmerksamkeit bekommen und man sich selbst schnell klein daneben fühlt. Und wenn früher “Verzicht” eine Tugend war, so glaube ich, dass es heutige Generationen mit dem Überangebot an Konsumgütern nicht unbedingt einfacher haben - früher gab es einfach nicht mehr (ist Verzicht auch Verzicht, wenn man keine Wahl hat?), während man heute sich wirklich beherrschen muss, wenn man ein Einkaufszentrum betritt, welches mit günstigen Preisen wirbt, um nicht jedes Mal wieder etwas zu kaufen.

Insgesamt könnten glaube ich beide Seiten voneinander lernen und anstatt sich über den jeweils anderen zu beschweren, könnten wir doch versuchen, die Probleme der anderen besser zu verstehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese geändert haben, doch die heutige Generation dafür zu verurteilen, dass auch sie mit eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, ist in meinen Augen etwas zu kurz gegriffen. Aber vielleicht hat der ein oder andere Leser dazu ja etwas beizutragen oder eine Erfahrung aus dem eigenen Leben, die er gerne teilen möchte…

Danke fürs Lesen und ich freue mich über jegliche Reaktion, Kritik oder Anregung als neuen Denkanstoß!

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